Re: Blumfeld – Verbotene Früchte

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sebsemilia

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Etwas spät, aber besser als nie.
Habe es endlich geschaft meine Plattenbesprechung fertig zu schreiben.
Nachzulesen gibt es das ganze auch auf www.blumfeld.de.vu

Entrez La Natur

„Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert,
daß wir keineswegs die Natur beherrschen,
wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht,
wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut
und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn,
und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht,
im Vorzug vor allen andern Geschöpfen
ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“

„Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte:
blindlings, gewaltsam, zerstörend, so lange wir sie nicht erkennen und
mit ihnen rechnen“

F. Engels

In der Anlage läuft Verbotene Früchte und es scheint nur ein bestimmendes Thema zu geben. Schnee, Tiere, Wälder und Wiesen, Bäche die zum Strom anschwellen, wieder vom Himmel regnen: die Natur. Ja, Distelmeyer schmust sogar mit Skorpionen.

Die kryptische Verschlüsselung der frühen Blumfeld Texte wurde seit Old Nobody mehr und mehr durch eine klare, direkte Sprache ersetzt. Verbotene Früchte geht hier wieder einen Schritt weiter. Die Texte sind zum großen Teil durch den Distelmeyer’schen Naturcodierungsapparat gelaufen, was ihm von allen Seiten den Vorwurf der bloßen Deskription, der Nähe zum Schlager & Kitsch und der Verbreitung von einfachen Wahrheiten einbringt. Man kennt das ja von guten Freunden und Bekannten.

Wenn jeder geschlossene Raum ein Sarg ist, muss diese Band nicht immer weiter gehen? Weg von den kühlen Gitarren, der Teenage Angst, dem verrätselten Text, dem Sprechgesang und der abgeklärten Coolness. Hin zu einem warmen Sound, zu Texten die man auch versteht, ohne sie zu verstehen, in die Natur? Manches erinnert nun an Folkmusik und Singer/Songwriter. Distelmeyer will das neue Album aber nicht als Folkalbum verstanden wissen. Vielmehr geht es ihm um eine Songtradition, die Blumfeld seit „der ersten Platte bearbeiten, im großen Interesse, alle möglichen Spielarten zu erkunden, kennenzulernen – unbekannte Kontinente.“

Sie vergiften alle Flüsse / die Luft, den Boden und die Meere

Spätestens seit Testament der Angst wurde häufiger auf den Kontinent Natur zurückgegriffen. Der Wind wehte um das Haus und wuchs auf „Jenseits von Jedem“ zum Sturm an. Als einfache Wahrheit wurde verkündet: Wir sind doch nur das Ergebnis der Gezeiten, plus Sternenstaub und Teile des Meeres. Das Stück Sonntag hätte ebenso gut auf Verbotene Früchte erscheinen können (Und der Tag scheint rüber zu mir / wie ich so durch die Schöpfung spazier‘ / Alles will blühen – ohne was davon tu haben). In den Apfelbäumen versteckte man sich sogar schon auf Ich-Maschine. Mehr als das Thema verwundert also die Konsequenz, mit der über Jahreszeiten, Elemente und Tiere um uns gesungen wird.

Nun also eine radikale Begegnung mit der Natur. Aber ganz anders als man sie die letzten Jahre in den Medien wiedergefunden hat. Nicht mit chaotischen Zuständen und drei Meter Neuschnee beginnt das Album. Friedlich und ruhig liegt eine Schneedecke über der Landschaft, wie ein weißes Blatt Papier und fragt: „Wie geht es Dir?“.
In den Texten finden sich auch keine Killer-Wellen, Mega-Stürme, Klimakatastrophen, Jahrhundertfluten oder vergammeltes Fleisch wieder. Die Songs passen so nicht zu einer Wahrnehmung, einer außer Kontrolle geratenen Natur. Während des Zuhörens drängt sich kein Gefühl der Ohnmacht auf, vielmehr führen die Stücke durch einen nahezu ursprünglichen Zustand. Die Natur scheint in einem harmonischen Gleichgewicht zu ruhen. Die Musik konterkariert dies nicht, versucht nicht die harmonischen Bilder aufzubrechen. Im Gegenteil, sie unterstützt die Stimmung des Albums, verstärkt den Eindruck des verschneiten Tages, schickt einen auf die Reise in den April oder begleitet den Fluss bis zum Meer und hinauf in die Wolken. In Schmetterlings Gang ahmt eine Sitar den Flügelschlag nach, dazu unterhalten sich Fuchs und Löwen, was dem Song etwas Fabel-haftes verleiht. Auch der Gesang fügt sich diesen Arrangements. Distelmeyers Stimme klingt auf Verbotene Früchte so entspannt wie nie, kräftig, jugendlich. Kein Sprechgesang mehr, wie auf den ersten Alben, hier wird gesungen.

Gestern Heute Morgen / Hoffnungen und Sorgen / Farbenfeuerwerke im April / Nachtigallen tanzen / Saft schießt in die Pflanzen / Und die Wolkenfelder ziehen still / Goldwolfsmilch und Alpenveilchen / Hagelschauer nur ein Weilchen / Hyazinthen und Vergißmeinnicht

Musik und Text bilden einen harten Kontrast zum medial vermittelten Naturbild. Ist das vielleicht die erwartete Gesellschaftskritik? Soll uns so die selbstverschuldete Katastrophe Natur vor Augen geführt werden? Distelmeyer selbst will es uns nicht verraten. In Interviews hüllt er sich in Schweigen, weicht aus und lässt uns wissen, dass er an Äpfeln „so faszinierend findet, wie und warum da immer neue Kreuzungen und Sorten entstehen“. Interessant, in der Tat. Während der anfänglichen Verwirrung hilft es einem aber nicht weiter.

Da ist dieses unwirkliche Gefühl, es lässt Verbotene Früchte fast kindlich naiv wirken, seltsam verklärt. Diese Eindrücke drängen sich auf, weil die Natur neben Arbeit, Fernsehen, Schlafengehen nur noch in Form von Naherholungsgebieten und Fernreisezielen auftaucht. Tiere kommen in der Regel nur noch als Gammelfleisch im Supermarkt, als Überträger von Grippeviren und allenfalls als Nachbars Hund in unserem Leben vor. Die verbotenen Früchte erscheinen so als eine Vision, aus vergangenen Tagen. Längst ist die Natur zum unkalkulierbaren Risiko und zur Kostenstelle in der Kalkulation der freien Märkte geworden. Unterwerfung und Beherrschung der Natur, so sieht’s aus, Ladies and Gentlemen. In einem Hauptwerk der Frankfurter Schule heißt es: „Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben.“ Und ein paar Seiten weiter: „Natur soll nicht mehr durch Angleichung beeinflusst, sondern durch Arbeit beherrscht werden“. Anstatt mich über den Begriff der „Hamburger Schule“ zu wundern, also lieber mal wieder die Originale lesen?

Für was mir fehlt, schreib ich ein Lied / Und greif in meine Saiten /
Und die Zeit bleibt stehen in meiner Phantasie/ Bist du bereit für eine kleine Utopie?

Bei all dem Scheiss, der einem täglich ins Gesicht explodiert, tauchen natürlich noch immer Ängste, Sorgen und Nöte in den Stücken auf. Wenn man es nüchtern betrachtet, handelt auch nur etwas mehr als die Hälfte der Stücke von Flora und Fauna.
Strobohobo ist der Song zum Buchstaben und das Protokoll eines beängstigenden Spaziergangs durch den Karneval der Namen. Unterwegs trifft man auf einen Wolfsmensch, Bob Ross, Yoko Ono und den lieben Gott am Telefon (Ich frag´: „Was wollen sie denn? / Mit Quasimodos Klingelton / Oh Lord, gebt endlich Frieden!“). Am Ende ruft uns der Chor der Kolosse zu: Komm raus zum Rhododendron / Und zu den Orchideen! / Du bist doch sonst kein Fan von / Solchen Schnapsideen.
Bei Der sich dachte hört man dem Erwachsenwerden zu und verfolgt die Suche nach Liebe, Sex, Wahrheit und Gerechtigkeit, inklusive Blowin’ in the Wind Anspielung. Am Ende bleibt nicht weniger als die Erkenntnis, dass der, der sich dachte, für das, was er dachte, lebte. Im klassischen Gewand des Singer/Songwriters kommt so die Aufforderung dem eigenen Weg zu folgen und zu denken daher.
Auch wenn Tiere um uns vordergründig in den Naturblock fällt, ist es eine süße Klage über das Zusammenleben auf dem blauen Planeten und der Verweis auf eine Lebensmittelindustrie, die sich längst in ihr Gegenteil verkehrt hat, Seuchen, Hunger und Armut täglich von neuem produziert. Hinter dem ruf „Hey, Tiere!“ steht das Wissen um die Schlachthäuser und Tierparks dieser Welt.
In der Tierwelt wird aber nicht die bessere Ordnung gesehen, Distelmeyer befindet sich nicht auf der Flucht vor der Realität, auf dem Weg zurück in die Natur, zu einfachen Verhältnissen. Tiere um uns sind keine besseren Menschen, in ihrer Welt gilt des Stärkeren Recht.
Auf der ersten Single (Tics) stehen die Verhältnisse im Mittelpunkt, welche Menschen in verkümmerten Zonen jobben und wohnen lassen. Sie ist die Art von Popsong, die von Blumfeld die letzten Jahre über perfektioniert wurde. Von Crack bis Milchkaffe ist alles vertreten und man erfährt vielleicht sogar noch etwas über Distelmeyers Gefühlswelt. Er macht sich Sorgen wie nie, singt seine Gedichte während die Sieger Geschichte schreiben.

Die Geschichte macht weiter / die herrschende Klasse

Und so begegnet einem wieder das Recht des Stärkeren. Was unterscheidet nun aber das Recht des Stärkeren und die Sieger, die ihre Geschichte schreiben? Ein Unterschied ist die Geschichte selbst, das Bewusstsein von ihr. Im Gegensatz zu uns Menschen findet im Reich der Tiere keine Anpassung an historische Veränderungen, keine Entwicklung und Produktion des eigenen gesellschaftlichen Seins statt. In ihrer Welt gilt des Stärkeren Recht, in unsere führte die historische Entwicklung zum Recht des Privateigentums. Anders als die Tiere um uns können wir unsere naturwüchsige Ordnung aufbrechen, verändern, die Geschichte als solche wahrnehmen und bewusst beeinflussen.
Diese Möglichkeit der eigenen Befreiung wurde schon auf Jenseits von Jedem besungen (Wir sind frei / Es gibt kein Müssen und kein Sollen / wenn wir nicht wollen /) und findet ihre Fortsetzung auf Atem und Fleisch.

Es gibt nur diese Welt / Wir sind auf uns gestellt Jeder auf seine Art / Hier in der Gegenwart
Es gibt kein nächstes Mal / Für uns, nur diese Welt / Und wir sind grundlos da / Allein auf uns gestellt / Und es ist sonderbar / Wir sind einfach da / Und was wir tun und lassen
Liegt in unserer Hand

Wenn wir unsere Geschichte selbst in der Hand halten, warum stehen die Träume leer und wachsen die Wüsten? In ihrer Vorrede zur Dialektik der Aufklärung werfen Horkheimer und Adorno eine ähnliche Frage auf, wenn sie schreiben: „was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einem wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“.
Warum der Verein freier Menschen noch immer nicht Wirklichkeit geworden ist, kann hier nicht beantwortet werden. Soviel dann aber doch, es bedarf eben des Bewusstseins über die Geschichte, und nicht den Glauben an ihr Ende. Das Programm, mit dem die Aufklärung einmal angetreten ist müsste endlich verwirklicht werden, der Mensch müsste sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Der Weg dorthin scheint noch lange zu sein und führt zwangsläufig zu der Notwendigkeit der Erkenntnis. Erkennen welche Zwänge uns die Natur auferlegt und welche im laufe der Jahrhunderte naturwüchsig Entstanden und so auch überwunden werden können.

Was ich so faszinierend an Äpfeln finde …

Die Erkenntnis fand ich auch im Apfelmann wieder. Ein gute-laune Kinderlied, welches einen im ersten Moment ratlos zurück lässt. Haben die bürgerlichen Schmierfinken doch recht, Distelmeyer verrückt?
Mit dem Apfelmann begegnet man zum ersten Mal einer der verbotenen Früchte. Manch einer glaubt ja noch immer, dass ein Apfel vom Baum der Erkenntnis dazu führte, dass wir heute im Schweiße unseres Angesichts jobben müssen, aus dem Paradies flogen und uns primäre Geschlechtsmerkmale die Schamröte ins Gesicht treiben. Nach einem Biss in den saftigen Apfel soll nichts mehr wie zuvor gewesen sein. Adam und Eva waren von der Erkenntnis geküsst, konnten verstehen was um sie herum geschah und wurden dafür von Gott verstoßen.

Wie die Schlange versucht auch der Apfelmann uns diese Frucht näher zu bringen. Mit all dem Aberglauben kann er aber nichts anfangen. Rührend, voller Hingabe kümmert er sich um seine Apfelbäume und auch um Beete, Busch und Strauch. Dieser Apfelmann will uns nicht aus unserer vorgefundenen Welt vertreiben, er meint es gut mit uns und seinen Früchten. In einem fröhlichen, beswingten, den Rock´n´Roll zitierenden Stück Musik mit Handclaps und Choreinlage kommt er daher und steht so ohnehin in einer Tradition von Befreiung und Auflehnung.
Es kann doch auch unmöglich Sünde sein, erkennen zu wollen was Gut und Böse ist. Der Apfelmann ist ganz im Dienst dieser Erkenntnis unterwegs, bemüht den Menschen zu helfen, aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit auszubrechen. Dafür nimmt er es auch in kauf keine Zeit zum Ausruhen zu finden. Ein Apfel voller Erkenntnis fällt einem nämlich nicht einfach auf den Kopf, in ihm steckt ein Menge harter Arbeit. Es ist ein weit verbreitetes anti-intellektuelles Vorurteil, welches besagt, dass die Aneignung und Entwicklung von Theorie, der einzige Weg zu Erkenntnis, nichts mit Arbeit zu tun habe. Der Apfelmann weiß es besser. Er sieht die Apfelbäume warten und weiß, es gibt noch viel zu tun. Im Garten und im Studierzimmer.

Auch wenn sich ein Teil seiner Arbeit im Kopf abspielt, geht er doch nicht verkopft und verkrampft an die Arbeit. Entspannt steht er im Garten, wackelt leicht mit den Hüften und überlegt sich wie es mit den Äpfeln weitergeht. Welche Sorten könnte man kreuzen, welche sind bereits vollkommen, was passt am besten in den Apfelkuchen.
Das Ganze ist natürlich keine Übung in Sachen Obstanbau und auch kein Selbstzweck. Die Ernte der Erkenntnisse soll mit anderen geteilt werden. Was hilft es vollends aufgeklärt im Garten zu stehen, wenn der Rest der Welt im dunklen Taps und Fern sieht?
Leider bedarf es dazu den Weg über den freien Markt, und er fährt zum Wochenmarkt in die Stadt. Lieber würde er das Ergebnis seiner Arbeit verschenken, aber von irgendetwas muss der Apfelmann schließlich auch leben. Und gelebt wird in der bürgerlichen Gesellschaft noch immer mit dem Geld als Vermittler. So lange alles weiter macht, wird er seine Äpfel daher in Tüten packen, den Sauren und den Süßen. Wie könnte er auch anders, er ist der Apfelmann, baby. Kein Kinderlied also, Religionskritik, Verweis auf die Aufklärung. Und der, der sich das dachte, sieht den Gedanken hinterher, während Verbotene Früchte mit einem gemeinsamen Flug mit ein paar Raben ausklingt.

Und fliegen – weil wir Raben sind
Wir sitzen bei Nacht zusammen in unserem Baum /
Ich bin noch wach und nehm´ Dich mit in meinen Traum

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Look out kid You're gonna get hit