Re: Rezeptionsverhalten und -möglichkeiten in den 1960er und frühen 70er Jahren

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Rezeptionsverhalten und -möglichkeiten in den 1960er und frühen 70er Jahren Re: Rezeptionsverhalten und -möglichkeiten in den 1960er und frühen 70er Jahren

#3940149  | PERMALINK

go1
Gang of One

Registriert seit: 03.11.2004

Beiträge: 5,644

MikkoIn diesem Zusammenhang stellt sich erst recht die Frage, warum ist für die meisten von uns hier im Forum Musik von früher Jugend an so wichtig? Und warum blieb sie es? – Die meisten Leute aus meiner damaligen „peer group“ oder Clique, die sich schon intensiver für Musik interessierten als der Durchschnitt, tun dies auch heute noch, soweit ich weiß. Auch wenn ich zu den meisten kaum noch Kontakt habe, weiß ich, dass einige wenige Riesenplattensammlungen haben und auch heute noch regelmäßig neue Platten kaufen, während die meisten meiner Jugendfreunde ihre Plattensammlungen (falls sie überhaupt eine nennenswerte Anzahl besaßen) irgendwann verkauft oder verschenkt haben.

It’s „the problem of leisure: What to do for pleasure“ (Gang of Four).

Viele Leute betreiben ein ernsthaftes Hobby in ihrem Schuppen im Garten: Modelleisenbahnen, Zinnsoldaten… Andere sammeln Platten.

Bei vielen Leuten, die ich kenne, endete die Musikleidenschaft mit dem Erwachsenwerden, als sie sich wichtigeren Dingen zuwandten: dem Beruf, der Familiengründung… Ich denke, wenn sie diesen Übergang übersteht, gibt es keinen Grund, warum sie nicht endlos weitergehen sollte. Irgendwann hat man so viel Zeit hineingesteckt, daß die Beschäftigung mit Musik zu einem Teil dessen wird, was man ist, der eigenen Identität. Es kommt auch darauf an, daß man Gleichgesinnte kennenlernt und Zeit mit ihnen verbringt. Unter Gleichgesinnten bestätigt und bestärkt man sich gegenseitig. Indem wir endlos über neue und alte Platten, über Bands und Musiker quatschen und sogar „philosophieren“, womöglich noch ernsthaft Listen basteln, tun wir so, als sei die Musik ungeheuer wichtig – bis wir es selbst glauben. Wenn man so viel Zeit mit etwas verbringt, muß es wichtig sein. Artikel in Zeitschriften können dieselbe Funktion haben, wenn sie ihren Gegenstand mit Ernst betrachten. Nach dieser Bestätigung sucht man, weil man sich mit der Musik Bedürfnisse erfüllt.

Die Musik hat ja auch viel zu bieten. „Mit Musik geht alles besser“, selbst die Hausarbeit. Der Alltag bekommt einen Soundtrack. Stars bringen Glamour und Farbe hinein. Musik kann eine Stimmung im Raum erzeugen, sie kann zum Kuscheln gut sein oder zum Tanzen oder zum ekstatischen Ausflippen. Wenn man sich darauf versteht, kann man sie als Kunst genießen, den sinnlichen Schein der Idee wahrnehmen, ein Konzept und seine (gelungene) Umsetzung spüren. Musik regt die Phantasie an. Wer es ernsthaft betreibt, erfährt die Freuden des Jagens und Sammelns. Immer wieder gibt es neue Reize. Hat man sich einmal auf die Entdeckungsreise begeben, kommt man so schnell nicht zurück.

Die Reiserouten ändern sich im Lauf der Zeit. In den 60ern und 70ern gab es noch nicht so viel Geschichte (in der Rockmusik, meine ich), und die es gab, war nicht so leicht zugänglich (Platten und Informationen waren schwerer zu bekommen). Da lag es näher, sich dem Neuen und Zeitgenössischen zuzuwenden. Heute sind die Möglichkeiten größer – Reissues noch und noch, die Vergangenheit liegt offen. Das Alte konkurriert mit dem Neuen; es gibt gangbare Wege in alle Richtungen. Auch viele Jugendliche hören heute „Classic Rock“.

Immer aber geht es darum, das eigene Leben angenehm zu gestalten.

--

To Hell with Poverty