Re: Rezeptionsverhalten und -möglichkeiten in den 1960er und frühen 70er Jahren

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norbert

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Hi, anbei ein Bericht über meine Erfahrungen mit der Musik in den 60er und 70er Jahren:

SABA
In den 50er und frühen 60er Jahren saß ich gerne vor dem heimischen Radio (Zierleisten, Stoffbespannung und „Magisches Auge“) und freute mich, wenn etwas temperamentvollere Sachen gespielt wurden (Hava Nagila, I Love You Baby von Conny Froboes, Jan und Kjelt , später Twist-Stücke).
Meine Eltern hörten viel AFN. Ich verstand zwar kein Wort von dem was die Moderatoren sagten – aber mir gefiel die charmante und lockere Art der Präsentation. Zu meinen Song-Favoriten zählten z.B.: El Paso, Yellow Rose of Texas, Magic Moments usw.
Die Radiosendungen der Deutschen Sender habe ich als sehr steif in Erinnerung: Kochrezepte, Wasserstandsmeldungen und monotone Ansagen: „und jetzt Musik – Sie hören eine Aufnahme des…. unter der Leitung von…. .“ Besonders schlimm wurde es an Sonn- und Feiertagen, denn da wurden ausschließlich volkstümliche Lieder oder „Trauermusik“ gespielt.

Beat
Für die Beatles war ich „Feuer und Flamme“ seit ich She Loves You und I Want To Hold Your Hand gehört hatte. In der Schule, während der großen Pausen, versuchten meine Freunde und ich verschiedene Passagen der Songs nachzusingen. Fast jeder neuen Beat-Band konnten wir etwas Positives abgewinnen. Unser Musiklehrer machte uns Sextanern alles madig, was aus dieser Richtung kam: „Langhaarige verlauste Affen! Passt auf in 10 Jahren weiß keiner mehr wer die Beatles waren“. Danach ließ er uns „Ich hatt’ einen Kameraden“ singen.
Nach und nach gab’s immer mehr heimische Beat-Bands die im „Saalbau“ Standards spielten (Shakin’ All Over) und wir tanzten zaghaft Twist dazu. Aus heutiger Sicht wirkt vielleicht so manches Verhalten widersprüchlich. Ich war damals bei den Pfadfindern und während unserer Geländespiele unterhielten wir uns nebenbei z.B. über den neuen Song der Rolling Stones „Get Off Of My Cloud“ und bewunderten Charlie’s Beitrag am Schlagzeug.
Meine Eltern waren der „neumodischen“ Musik gegenüber nicht tolerant. Eigene Schallplatten oder ein Tonbandgerät hatte ich damals nicht. Radiosendungen mit Beatmusik auf UKW gab es am Samstag für 1 Stunde. Später gab es dann täglich von 16 -17 Uhr den „Club 16“. Ich beneidete Freunde, die schon einige Singles hatten. Mit 13 habe ich mir meine erste LP von erspartem Geld gekauft. Es war „Sgt. Peppers“- der damals aktuelle Longplayer der Beatles. Diese Platte habe ich immer dann im Wohnzimmer gehört, wenn meine Eltern nicht zuhause waren Mein bester Freund hatte ein Tonbandgerät. Die Bänder waren fast ausschließlich mit Songs aus Radiosendungen gefüllt. Schließlich hatten wir irgendwann ein ganzes Band ausschließlich mit Stones-Musik zusammengestellt.

Are You Experienced ?
Irgendwann fand ich dann andere Bands viel interessanter als die Beatles. Es gab ja die Yardbirds, The Kinks, The Who, die Spencer Davis Group und eine Menge andrer guter Acts.
Meine 2. LP war „Beggars Banquet“ von den Stones. Mit 16 hatte ich dann mehr Geld für Plattenkäufe zur Verfügung. Dennoch waren die 20-22 DM für eine LP sehr viel Geld für mich. Irgendwann gab es dann auch Compilations für 10 oder 12 DM. Meine ersten beiden Compilations waren „A Psychedelic Trip To Underground“ und „Blues News“. Auf der einen Platte befindet sich z.B. „Crossroads Of Time“ von Eyes Of Blue, „Well Wired“ von den Daughters Of Albion und „Make Love, Not War“ von The Tea Company. Auf der Blues News ist Hendrix mit “Red House”, Howlin Wolf mit “Evil” und “Built For Comfort” und Cream mit “Born Under A Bad Sign” vertreten.
Dann begann meine “Are You Experienced-Phase” ;-) . Jimi Hendrix war mein großer Held.

Meine Brieffreundin in Leipzig habe ich mit zusammengefalteten Bildern aus dem Magazin „Popfoto“ versorgt. Mit meinen Freunden hing ich im Augsburger „Big Apple“ ab. Ab und zu fuhren wir auch nach München ins „Blow Up“. Unser erstes Rockfestival erlebten wir mit dem „2nd British Rock Meeting“ auf der Insel Grün bei Germersheim am Rhein.

Berlin
Seit 1973 lebe ich nun in Berlin. Anfangs habe ich gestaunt, dass die LPs hier so preisgünstig waren. Folglich geriet ich dann in einen richtigen Kaufrausch. Zu den ersten Sachen gehörte dann das Grateful Dead-Oeuvre, „Manassas“ von Stephen Stills (diese Doppel-LP hat mich nachhaltig beeindruckt) und die Veröffentlichungen rund um CSN&Y. Später kam dann viel Zappa-Material dazu.

Ja, ich gebe zu, auch ich hatte danach eine Yes- und Genesis-Phase.

Katharsis
Als Sounds-Leser bekam ich dann mit, dass sich in GB etwas Interessantes und vollkommen Neues entwickelte. In den Sendungen von John Peel hörte ich dann auch die ersten Sachen. Diese Unverbrauchtheit und die wilde Energie des Punkrocks hat mich fasziniert. Diese Aufbruchsstimmung machte mich euphorisch. Ich ließ mir die lange Mähne abschneiden und ließ mir in den einschlägigen Läden Platten empfehlen. Erst ab hier wurden 7“ Singles für mich wieder interessant. Neben Punkrock stellte Peel zu dieser Zeit noch viele Reggae vor. Zwischen Punk und Reggae besteht für mich seit dieser Zeit eine enge Verbindung. Besonders angetan war ich von den schweren Dub-Sounds und Toastern. Meine alten Platten wollte ich zu der Zeit überhaupt nicht mehr hören. Ich hing im Punkhouse, im Bowie, im Dschungel und im SO 36 ab. Ich reiste nach London um dichter am Ursprung dieser Bewegung zu sein. Später waren meine bevorzugten Plattenläden in Berlin „der Zensor“ und „Vinyl Boogie“.
Meine Begeisterung für Punk und New Wave hielt sich bis ca. 1981. So ab 1980 stießen dann die „falschen Leute“ zu der Szene und die darauffolgende Entwicklung hat mich dann angewidert.

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Blog: http://noirberts-artige-fotos.com Fotoalbum: Reggaekonzerte im Berlin der frühen 80er Jahre http://forum.rollingstone.de/album.php?albumid=755