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Vielen Dank, Otis, für deinen umfassenden Bericht! Ich finde es eine gute Idee von Mikko, diesen Thread aufzumachen, so ein bisschen Austausch über vergangene Zeiten ist doch sehr interessant.
Ich habe mich schon sehr früh für Pop-Musik interessiert, meine Erinnerung geht zurück bis zu meinem 6.Lebensjahr als ich schon Lieblingsschlager hatte. Um 1960 herum kauften meine Eltern ein Grundig-Radio, das sie bei den Eltern eines Klassenkamaraden gesehen hatten: Der Clou war, dass man Singles darin abspielen konnte: man schob sie in einen Schlitz und schon ging’s los. Da hörte ich aber noch Märchenschallplatten, meine Mutter kaufte ab und ab ein paar Schlager von Erni Bieler, Peter Alexander und Friedel Hensch & den Cypris. Die erste Sigle, die ich richtig toll fand, war „Sail along silv’ry moon“ von Billy Vaughn. Merkwürdigerweise kann ich mich an kein einziges Singles-Cover erinnern, ich glaube, meine Mutter entsorgte sie sogleich als überflüssige Verpackung. Die Singles wurden in einem (meist sehr geschmacklosen) Plastikalbum aufbewahrt.
Meine erste eigene Single kaufte ich mir im KaDeWe. Die hatten eine richtige Schallplattenabteilung mit einer richtigen Auswahl an Singles. Das reinste Paradies im Gegensatz zu den mickrigen Elektro-Händlern, bei denen man die Singles einzeln bestellen musste. Nur wenige Händler hatten eine Plattenbar. Da konnte man dann einen Hocker erklimmen, zwei Telefon-Hörer ergreifen und sich die Platte vorspielen lassen.
Weihnachten 1965 bekam ich dann eine richtigen Dual-Plattenspieler. Ab da war es dann ziemlich vorbei mit den Singles. Auf LPs gab’s einfach mehr Musik und sie sahen viel schöner aus. Eine Klassenkameradin hatte Eltern mit einem Elektrohandel, da bekam ich dann LPs ein bisschen günstiger, so für 16, 17 DM. Und ich wünschte mir von allen Verwandten zu allen Anlässen LPs. Das hatte zu Folge, dass ich von allen Kindern in meiner Klasse die meisten LPs hatte, was besonders die Jungs toll fanden. Mit denen konnte ich sowieso besser über Pop-Musik reden, Mädchen schnitten irgendwelche Fotos ihrer Lieblings-Stars aus, das fand ich ziemlich öde.
1965 ging ich auch auf mein allerestes Beatkonzert: The Kinks und The Fortunes in der Berliner Waldbühne. Ich durfte da nur hingehen, weil es auch eine Nachmittagsvorstellung gab. Die Kinks waren meine Lieblingsband – sie waren einfach cooler als Beatles und Stones. Und ich musste halt auch immer was Besonderes haben. Zum Beispiel zu meiner Konfirmation ein tragbares Tonbandgerät, da nahm ich das gesammelte Geld und legte es einem Händler auf den Tisch. Das Gerät war von Aiwa und war toll, aber es hielt nur zwei Jahre und fing irgendwann an, schrecklich zu jaulen und zu eiern.
1966 zogen wir von Berlin nach Westdeutschland, da habe ich dann auch viel AFN gehört: Gary Lewis & his Playboys, Paul Revere, Electric Prunes, Jay & the Americans, Lovin‘ Spoonful. Mit einigen Jungs aus meiner Klasse stand ich weiterhin in regem Briefwechsel, wir gaben uns Tipps und führten Hitparaden. Meine LP-Sammlung wuchs ständig, immer wieder Beatles, „Aftermath“ von den Stones, Beach Boys und Peter & Gordon (beide von Hör Zu) 1967 kaufte ich das Debüt-Album von den Bee Gees, aber schon „Horizontal“ fand ich zu schmalzig und außerdem mochte es dann jeder.
Ich hatte immer noch die meisten LPs und kann mich auch nicht daran erinnern, dass irgendjemand in meiner Klasse mehr Ahnung von Popmusik hatte als ich. Mein Hunger nach Infos war ebenfalls enorm. Bravo war mir zu profan, ich holte mir z.B. die englische RAVE am Bahnhof.Von meinem Vater bekam ich dann ein Jahres Abo vom New Musical Express, das schweineteuer war, aber ich bin ihm heute noch dankbar dafür.
Mein erster Freund (knapp drei Jahre älter als ich) brachte mir dann Pink Floyd, Velvet Underground und Vanilla Fudge nahe und damit ging dann alles erst richtig los.
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When I hear music, I fear no danger. I am invulnerable. I see no foe. I am related to the earliest time, and to the latest. Henry David Thoreau, Journals (1857)