Re: Rezeptionsverhalten und -möglichkeiten in den 1960er und frühen 70er Jahren

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otis
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Ich weiß nicht, ob das wirklich von allgemeinem Interesse ist, was Mikko hier vorhat. Möchte hier eigentlich auch nicht zu privat werden. Bitte also, das Folgende nicht als falsche Folklore misszuverstehen.
Aber die frühen 60er müssten vielen Heutigen, was die Musikrezeption anbelangt, noch derart steinzeitlich vorkommen, dass es vielleicht doch interessant sein könnte.
Ab 68 nämlich sah z.B. die deutsche Radiolandschaft schon völlig anders aus als z.B. 65.
Ab der Zeit gab es jede Menge regelmäßiger „Jugendsendungen“, in der die entsprechende Musik gespielt wurde. In jener Zeit gab es z.B. auf NDR2 jeden Tag den Fünf-Uhr-Club, auf dem man mit dem Neuesten versorgt wurde. Auf WDR liefen einige recht ambitionierte Sendungen. Ich kann mich an Pop-Revolution erinnern, mit Joachim Sonderhoff und H.M. Broder (mag 69 gewesen sein), oder an die W. Trenkler-Sendungen. Ab 68/69 habe ich Peel gehört, durch ihn z.B. den „neuen“ Miles Davis kennen gelernt. Ab da änderte sich für mich die Musikrezeption in die Richtung, wie man sie heute noch kennt. Möchte sogar behaupten, dass es damals ausgesprochen gute Musiksendungen gab.

Vorher war es, zumindest für mich und meine Sozialisation, deutlich schwieriger und irgendwo auch unfreiwillig spannender, an Musik zu kommen, und eben völlig anders als heute. Dass Platten damals unglaublich teuer waren im Vergleich zu heute, ist wohl bekannt. 4,75 für eine Single, dafür musste ein Lehrling einen Tag arbeiten. Für eine LP eine Woche. Und 80 Mark im Monat bekam damals nicht jeder, Anfang der 60er gab es noch deutlich weniger. Und da jammern sie heute über 15 Euro für eine LP!
Ich selber wuchs in einem (katholischen) Jungeninternat auf, was einerseits fürchterlich war, weil wir von den Unbilden und Anfechtungen der Zeit ferngehalten werden sollten (was zu jener Zeit, als es überall brodelte, natürlich unmöglich war), andererseits einen kleinen Vorteil hatte, weil der Austausch untereinander größer war, obwohl das kein Reichen-Internat war, im Gegenteil. Platten und –spieler hatte dort kaum jemand.
Wie kam man an Musik? Dass Pop-Musik obercool war, sprach sich schnell herum. Aber wir hatten in den ersten beiden Jahren, als ich dort war, kein Radio. Ab Frühjahr 65 gab es dann die Möglichkeit, Radio zu hören. So hockten vielleicht 5-6 12-jährige Jungs sonntagsabends vor dem Teil und hörten die NDR2-Schlagerparade.
Die Bravo war strikt verboten.
Auf der örtlichen Kirmes (=Jahrmarkt, Kirchweih) ging es dann schon heißer her. Die Raupe, jenes Karussell mit zuklappbarem Verdeck, spielte immer die schärfste Musik, sogar mit DJ-mäßigen Ansagen. Dort hielt ich mich immer, so lange es ging, auf, und lernte auch ältere Sachen kennen und lieben. Wipe Out und California Sun, Be Bop A Lula und Summertime Blues, Jailhouse Rock und Tutti Frutti…
Ab 66 hatten wir dann zwei „Beatbands“ im Hause, wovon die zweite (kaum älter als wir) richtig gut war. Da man sich kannte, durfte ich dann und wann an Proben teilnehmen, erlebte, wie sie vom Band die Stücke abhörten und sich erschlossen. Da es Beatbands gab, mussten sie auch spielen dürfen. So hatten wir in regelmäßigen Abständen unsere Beat-Abende, oft auch Band-Battles mit bis zu 10 Gruppen von außerhalb, was das Hörspektrum „enorm“ erweiterte. Ich habe wirklich viele Songs als Coverversionen von kleinen Amateurbands kennen gelernt. Ich erinnere mich an Bands, die auf Pretty Things machten oder später sogar eine, die Hendrix drauf haben wollte. Sie war definitiv grausam.
Wir hatten zwar kein Geld, trieben uns aber, so oft es möglich war, auch außerhalb des Internats im nahe gelegenen Dorf rum, besonders am Wochenende. Dort konnte man zwar keine Platten kaufen (das örtliche Radio- und Fernsehgeschäft hatte vielleicht 20 Singles im Angebot, wie ich im Herbst 67 leidvoll erfahren musste, aber das ist eine andere Geschichte), jedoch gab es zwei , drei Kneipen, die eine Musikbox hatten. Wir tranken kaum etwas, sondern setzten uns vor die Jukebox und hörten Musik. Grausam war, dort Titel vorzufinden, die man nicht kannte, und dann entscheiden zu müssen, ob man seine wenigen Groschen dafür investieren sollte oder nicht. So ging es auch den meisten B-Seiten. Sie wurden nur gespielt, wenn klar war, dass sie gut waren, oder man Geld übrig hatte. Das Verrückteste, was ich dort erlebt habe, war, dass jemand gern die musikalisch etwas abgefahrene Rückseite von Celentanos Una Festa Sui Prati wählte, aus dem einzigen Grund, weil die über 5 Minuten lang war und er mit wenig Geld viel Musikzeit kaufen konnte.
In meiner häuslichen Umgebung, die ich nur in den Schulferien erlebte, gab es noch ein paar Freunde, von denen einer ein paar Platten hatte. Durch ihn lernte ich u.a. Aftermath und Buttons kennen und lieben, als sie herauskamen. Über ihn fand ich auch Zugang zur Soulmusik. Er war Otis-, Pickett- und Motown-Fan.
Zu Weihnachten 67 bekam ich dann ein Grundig-Tonbandgerät, andere hatten Radios, und ab da wurde alles etwas selbstbestimmter. Wir begannen von da an auch interne Partys zu veranstalten, liehen Singles (auch alte bis in die 50s zurück) aus. Meistens legte ich auf. Alle waren ohne Hülle, die meisten ziemlich verkratzt, aber für mich waren sie Kostbarkeiten.

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