Re: Genesis – Selling England by the Pound

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nail75

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Das erste Meisterwerk der Band liefert einige der schönsten Beispiele ihrer Kunst. „Selling England By The Pound“ verrät schon im Titel den Inhalt: Es geht um England, um englische Kultur, englische Gesellschaft und englische Befindlichkeiten.

Über allem thront „Firth Of Fifth“ (der Titel ist eine Anspielung auf den Firth Of Forth). Das Lied verdeutlicht, dass Genesis im Gegensatz zu vielen anderen Prog-Rock-Bands songdienlich komponiert haben. Das lange Klavier-Intro leitet FoF mit einer dramatischen Steigerung ein, bevor dann Peter Gabriels erhabener Gesang einsetzt. FoF macht auch heute noch einen gewaltigen Eindruck auf mich: In diesem Lied verschmelzen die vielschichtigen Stimmen der Band zu einem perfekten Ganzen. Besonders beeindruckend ist die Harmonie von Text und Gesang, Hacketts wunderbares Gitarrensolo, das sagenhafte Flötensolo von Peter Gabriel und der wunderbare Abschluss mit den Zeilen: The sands of time were eroded by / the river of constant change. Ich habe „Firth of Fifth“ hunderte Male gehört und habe keine Ahnung, worum es in dem Lied eigentlich geht. Die Rätselhaftigkeit macht diesen Song jedoch noch faszinierender.

FoF ist aber keineswegs das einzige Highlight auf „Selling England“. Dancing With The Moonlit Knight“ quillt geradezu über vor literarischen und politischen Anspielungen. Das Lied überzeugt aber nicht durch seine Gelehrsamkeit, sondern durch die organische und natürliche Struktur des Liedes: Trotz aller Richtungswechsel hat man den Eindruck eines sich harmonisch entwickelnden Stückes. Der Refrain ist dramatisch, fast euphorisch und wirklich mitreißend. Das Zusammenspiel der Band ist hier wie auf (fast) dem ganzen Album exzellent. Besonders hervorzuheben ist, dass sowohl die Soli wie auch die von der Band bestrittenen Instrumentalpassagen gelungen sind, denn das ist im Prog-Rock, ja in der Popmusik insgesamt, wirklich selten.

I Know What I Like setzt die englischen Sittengemälde fort. Anstatt darüber zu schreiben, will ich lieber auf zwei Songs eingehen, die ich sehr schätze und die oft eher schlecht bei Fans abschneiden. „More Fool Me“ ist ein von Phil Collins gesungenes Liebeslied. Collins ist etwas unsicher, wie er es angehen soll, singt vielleicht ein wenig zu hoch, aber gelingt es ihm, seine Emotionen zu transportieren, so dass ich das Lied immer wieder gerne höre. „The Battle Of Epping Forest“ ist ein ungestümes Biest von einem Song, das ich dennoch faszinierend finde. Natürlich ist es aufgeblasen und übertrieben: Es enthält Massen von Charakteren und verstellten Stimmen, aber es ist ein Song, an den man sich erinnert. Man hat den Eindruck, dass dem Zuhörer das ganze Lied gleich um die Ohren fliegt, aber irgendwie bleibt es in der Spur und erzeugt einen atemlosen Sog, der wiederum reich an Drama, aber auch an Satire ist.

Das folgende Instrumental verdeutlicht eine weitere Stärke des Albums. Es ist perfekt zusammengesetzt, bietet dem Hörer Momente des Dramas und der Aufregung, die dann von ruhigeren Passagen abgelöst werden, ohne dass es an Spannung fehlt. Man könnte auch sagen, dass „Selling England“ ungeheuer unterhaltsam ist. In all den Jahren, die ich es besitze, habe ich nie bereut, wenn ich es aufgelegt haben. Es ist – zusammen mit Lamb – das durchdachteste und am besten strukturierte Werk der Band.

Dancing With The Moonlit Knight *****
I Know What I Like ****1/2
Firth Of Fifth *****
More Fool Me ****
The Battle Of Epping Forest ****1/2
After The Ordeal ****
The Cinema Show ****
(Aisle Of Plenty ****)

Gesamt: *****

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.