Re: Robert Wyatt

#3858747  | PERMALINK

punkcow

Registriert seit: 08.07.2002

Beiträge: 9,235

Dieser Beitrag aus dem Thread „Nikos Favoriten“ ist zu großartig, um ihn nicht hier zu zitieren, ich hoffe, das ist in Ordnung:

nikodemus

Robert Wyatt – „Shleep“

(Hannibal – 1997)

Wenn irgendwann einmal irgendjemand das Leben von Robert Wyatt verfilmen würde, würde er wahrscheinlich ein Drama drehen, auch wenn dies Wyatts Musik und Leben nicht gerecht werden würde. Das ereignisreiche Leben von Robert Wyatt begann als Drummer der 60s Bands „Wild Flowers“ und später bei den psychedelischen Prog-Avantgardisten von „Soft Machine“, welche als Hauptvertreter der Canterbury Szene galten und als Vorgruppe der „Jimi Hendrix Experience“ auftraten. 1970 spielte er sein Solodebüt „End Of An Ear“ ein, gründete die Band „Matching Mole“, wo er sich weiterhin als einer der wichtigsten Jazzdrummer auszeichnete. Kurz darauf fiel er betrunken aus einem mehrstöckigem Haus und ist seitdem von der Hüfte abwärts gelähmt. Diese Erfahrung verarbeitete er in seinem legendären Album „Rock Bottom“, in welchem er Balladen einer extraterrestrischen Unterwasserwelt voller Optimismus, Humor und Hoffnung zu besingen scheint. Wyatt konzentrierte sich von nun an mehr auf seine Rolle als Sänger und Songschreiber. Seine Coverversion des Monkees Hits „I’m A Believer“ wurde 1974 zum Hit (#29 in den britischen Charts), einen Auftritt bei „Top Of The Pops“ wurde von deren Machern verboten, weil man keinen Sänger im Rollstuhl zeigen wollte (auf Druck einiger Kollegen durfte Wyatt schließlich doch auftreten). In den 80ern nahm er eine Reihe politisch motivierter Singles auf, besang den Falklandkrieg mit Costellos wunderbarem „Shipbuilding“, coverte Chics „At Last I Am Free“ sowie Billie Holidays „Strange Fruit“ und war Mitglied der britischen Kommunistischen Partei. In Abständen von sechs Jahren veröffentlichte Wyatt Alben voller meditativer, tranceartiger Tiefe mit zumeist sparsamer Instrumentierung (oft nur Keyboards und Percussion) und dieser einzigartigen hohen, emotionalen Stimme.

„Shleep“ (1997) war meine erste Platte des linken Visionärs und es sollte meine Liebste werden. Anfang der 90er versuchte Wyatt sich von einem Nervenzusammenbruch zu erholen, verfiel jedoch in Depressionen und gab seine geliebten Hobbys, das musizieren, schreiben und malen auf. Laut eigenen Aussagen war die Panik, dass sein eigener Geist sich ausklinken könnte, während sein Körper einfach weiter funktionierte, viel größer als seine ursprünglichen Probleme. Der Kämpfer von einst war müde geworden und litt zudem unter fiebriger Schlaflosigkeit, welche zu dem Haupthema seines nächsten Albums werden sollte – „Shleep“ war ein cleveres Wortspiel aus „Sheep“ (Schafe zählen) und „Sleep“. Wyatt unterbrach sein Konzept des Minimalismus und lud sich etliche alte und neue Freunde ein, um sein angesammeltes Material zu vertonen (nach eigenen Angaben schreibt RW rund einen Song pro Jahr, einen Großteil davon komponiert er zusammen mit seiner Frau Alfreda „Alfie“ Benge, welche auch für die kreative Covergestaltung verantwortlich ist). Zu den Beweggründen, sich Musiker einzuladen schrieb Wyatt…


I’m often quite happy to make records all on my own, but it’s not enough for me. If I want a new sound, just to sort of hire a flute player, or something like that. If I hire another musician, it’s because I want the company. And specifically in the case of this record – because it has the feeling of a journey to me. You get lonely, and at certain points in your journey travelling companions can sort of join you. And I choose musicians as much because I really enjoy their company in the studio for a couple of afternoons, and the sound of that company on record

Unter den Musikern befanden sich namenhafte Künstler wie Brian Eno, Paul Weller, Freejazz Legende Evan Parker und Phil Manzanera.
Der Opener „Heaps Of Shepps“ ist ein stark Eno-beeinflußter Popsong mit tollen Chören und Wyatts typisch skurril-witzigen Texten gepaart mit dieser ätherischen Stimme, die irgendwo in uns unbekannten Höhen ihres Gleichen zu suchen scheint.

„I realised my fists were clenched, I stretched my fingers to relax
still not sleeping, I tried counting sleep
one by one, they leap across the fence constructed for them
right to left, across the fence I had constructed
Having jumped, they refused further direction”

„The Duchess“ würgt die Stimmung ab, vertraute Wasserwogen und Parkers improvisiertes Saxophon erinnern an „Rock Bottom“, paradoxe Lyrik beschwören die Liebe zu Alfie. Wyatt fügt eine seekranke „polnische“ Geige hinzu und zusammen segeln sie auf diesem wundersamen Meer der Liebe. „Maryan“ behält die Aura des Meeres bei, eine gepickte Folkgitarre harmoniert zusammen mit Wyatts Trompete, der Song breitet sich aus wie eine Welle, wiederholt sich, eine Violine baut Spannung auf und ab und umspielt Wyatts rätselhafte Melodien. „Was A Friend“ ist eine Kollaboration mit Hugh Hopper (einMitglied von Wyatts alter Band „Soft Machine“) über Vergebung und heilende Wunden.
Die schönste Ballade auf „Shleep“, vielleicht seine Schönste überhaupt ist „Free Will And Testament“, ein philosophische Abhandlung über das Leben, über Freiheiten und existenzielle Probleme, getragen von Paul Wellers grandiosen Gitarren und dieser begierigen, sehnsuchtsvollen Stimme.

Given free will but within certain limitations,
I cannot will myself to limitless mutations,
I cannot know what I would be if I were not me,
I can only guess me

Ein jazziges Posaunenintro führt uns zu „September The Ninth“, das von dem Wunsch des Fliegens erzählt, welches auch sehr schön von dem Cover eingefangen wird. Das selbe Thema greift Wyatt in „Alien“ auf, wieder scheint Wyatt die Elemente Wasser und Luft zu verbinden, immer auf der Suche nach innerem Frieden und Schlaf. Besonders beeindruckend ist Manzaneras Gitarrensolo, welches die Überwindung der Elemente schön unterstreicht. „Out Of Season“ und „A Sunday In Madrid“ verbindet weiterhin Wyatts luftige, androgyne Stimme mit Geschichten über Vögel, Reisen und pittoreske Gefilde. Das Highlight bildet dann „Blues In Bob Minor“, Wellers Gitarre wütet, Wyatt dreht völlig ab und improvisiert Dylans „Subterranean Homesick Blues“ in seiner eigenen Version, ein treibender Beat unterstützt Wyatts Wortkreationen und Dylan kommt mir für einen Moment wie ein billiger Amateur vor. This is the real deal…

Roger’s in the archive looking up casement
Martha’s in the government digging up the basement
Rebel into representative for the voter
Shadow backhencher couldn’t get a word in
Turned up anyway … issues burning
All consuming … drinks in the cabinet
Spent a lot of time just examining the building
drinks on the house? you must be joking
Corridors of power cuts toy telephone bills
Long time no see underneath the floorboard
Looking for the roots of the family treetops
Toe’s in the water but you’ve only got ten………

Den Abschluss bildet Wellers Instrumental “The Whole Point Of No Return”, eine einsame Trompete wandelt zwischen Keyboardpassagen und nach kurzer Zeit weiß man, dass Wyatt endlich seinen Schlaf gefunden hat.

„Shleep“ fasziniert mich immer aufs Neue, sei es diese atmosphärische Dichte, diese unnachahmliche, „schönste Stimme der Popmusik“ (Maik Brüggemeyer) oder diese bizarren Texte. Vielleicht ist „Rock Bottom“ die wichtigere Platte, aber nie schien mir Wyatt näher und zugänglicher als auf „Shleep“. Wyatt hat sich wieder mal eine eigene Form von Popmusik geschaffen, unnachahmlich, individuell, einzigartig. Er hat es selbst am schönsten ausgedrückt, welche Gefühle seine Musik bei ihm auslösen können. Mir geht es genauso…

I get nearer and nearer towards happiness, or a feeling of being relaxed and free when I can lose myself in my environment

Zum Thread „Nikos Favoriten“

--