Re: Die besten Hard Bop Alben

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gypsy-tail-wind
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Das Album wurde im März 1960 aufgenomment und von Dave Axelrod produziert.

Paul Horn selbst stammt aus New York, Studium am Oberlin Conservatory of Music in Ohio, Master an der Manhattan School of Music in New York. Dann mit dem Sauter-Finnegan Orchestra, aber bekannt geworden v.a. durch seine Mitgliedschaft in Chico Hamiltons Quintet. 1959 organisierte er seine eigene Band, die auch auf „Something Blue“ zu hören ist.
Jimmy Bond (Bass) stammt aus Philadelphia, Studium dort an der New School of Music und an der Juilliard in NYC (Bass, Dirigieren und Komposition). Hat bis 1959 u.a. mit Gene Ammons, Ella Fitzgerald, Carmen McRae, Buddy De Franco, Nina Simone, George Shearing, Sonny Rollins und Chet Baker gespielt.
Paul Moer (geboren Moerschbacher) (Piano) stammte aus Pennsylvania, studierte in Florida, dann arbeitete er als rehearsal Pianist für TV-Shows (Bob Hope, Steve Allen), wurde dann an der Westküste bekannt, auch als Arrangeur, u.a. mit Shorty Rogers, Bud Shank und Howard Rumseys Lighthouse All Stars.
Emil Richards (Vibes) stammt aus Hartford, CT und hiess eigentlich Emilio Radocchia. Hartford School of Music, Perkussionist der Hartfod und New Britain Symphoniker, des Connecticut Pops Orchesters, 1954/55 in der US Army Band in Japan, dabei mit Toshiko Akiyoshi gespielt. 1956 in New York u.a. mit Flip Phillips, Mingus, Chris Connor, dann mit George Shearing, bei dem er bis 1959 blieb – dem Jahr, als er nach Los Angeles zog.
Billy Higgins (Drums) ist demnach der einzige, der von der Westküste stammt, aber wohl derjenige unter den fünfen, dem am wenigsten das Etikett des West Coast Jazz angehängt wird; die Bands, mit denen er vor 1959 gespielt hatte waren z.B. jene von Leroy Vinnegar und Harold Land – auch das eher Exponenten des „Black California“ Jazz als des klassischen West Coast Jazz.

Das find ich interessant in diesem Zusammenhang… auch Gerry Mulligan, mit dessen Quartett ja Pacific Jazz sein Debut machte, stammte von der Ostküste.

Was denn nun ist das für Musik, die diese fünf unter Horns Ägide einspielten? Bond erdet sie jedenfalls gehörig und auch Higgins ist eine Spur schwerer im Sound und druckvoller in der Ausführung als man sich das im West Coast Jazz üblicherweise gewohnt ist. Horn spielt Flöte, Klarinette und Altsax, Richards ausschliesslich Vibraphon. Der Sound von Moer und Richards ist schon eher dem leichteren Jazz zuzuordnen, und da die Vibes den Gruppensound recht stark prägen ist das nicht unbedeutend. (Richards hat selbst ja später auch World Pacific Alben gemacht, die wohl eher an der Schnittstelle von Exotica und Lounge Musik zu verorten sind als im Jazz.)
Horn spielt erwartungsgemäss extrem gepflegt, für mich wohl eine Spur ZU gepflegt. Sein Altsolo auf „Mr. Bond“ ist allerdings packend!

Die Stücke sind eigenartig und speziell strukturiert, ohne das auf eine schreierische Art zu zelebrieren. „Dun-Dunnee“ (Horn) besteht aus drei 16-taktigen Phrasen, von denen eine auch als Interlude zwischen den Soli Verwendung findet, „Mr. Bond“ (Horn) besteht aus einem Zyklus von verminderten Akkorden (bzw. einfach 7-Akkorden: G7, Bb7, Db7, E7), die jeweils für acht Takte gespielt werden, „Tall Polynesian“ (Moer) ist im 3/4-Takt, die Soli sind aber in Doubletime (quasi 3/2), „Fremptz“ (Richards) hat eine raffinierte Struktur aus drei 16-taktigen Phrasen, von der die zweite Hälfte der mittleren einen 4/4-Takt suggeriert, obgleich das ganze Stück im 3/4 durchläuft, „Half and Half“ (Horn) wechselt zwischen 4/4 und 6/8, bloss das Titelstück „Something Blue“ (Horn) ist ein regulärer 12-taktiger Blues – mit der Ausnahme, dass es nicht 7-Akkorde (wie heissen die schon wieder, Dominant-Sept-Akkorde?) sind, sondern alles Minor 7-Akkorde.

Man sieht also rasch, dass das alles sehr ambitioniert ist. Das Resultat wirkt oft impressionistisch, fast immer gelingt es, die Musik mit einer Leichtigkeit tanzen und singen zu lassen – während Bond/Higgins für die nötige Erdung sorgen.

Also insgesamt würd ich von „Cool Jazz“ reden, wenngleich nicht notwendigerweise von „West Coast Jazz“. Dazu ist die Musik doch etwas zu verhangen, gibt es zu viele Schatten, zuviel Nachdenklichkeit – also auch Momente echten Lyrizismus, nicht nur impressionistischer Leichtigkeit.

Gene Lees‘ Liners (die ich oben schon ziemlich ausgeschlachtet habe, besonders bezüglich der Strukturen der Tunes) enden wie folgt (nachdem er in bildunghuberischer Manier einen Vergleich mit einem Komponisten bringt, der die 30er Jahre in Bali verbracht habe, Colin McPhee, den Horn aber nicht kenne):

Whatever the sources, this is a fresh and different jazz album. One of Paul’s friends says that his is „the only group on the west coast that’s doing anything different.“ This would seem to be true, now that Ornette Coleman has gone east.
The exotic flavor of this music–sometimes gentle and almost fragile–never overcomes the drive of jazz. When the quintet drives, it drives hard, and there is hard cooking all the way. Or, as they say in the trade, „All the pots are on.“
Paul thinks that with this quintet and this album, he has found his direction. And I believe he is right.“

~ Gene Lees, liner note to „Paul Horn – Something Blue“, HifiJazz J-615, 1960

Als persönlichen Kommentar möchte ich noch anfügen, dass ich diese Musik wohl nicht dauernd hören möchte, dass ich mir aber durchaus vorstellen kann, dass das Album Potential hat zum wachsen (wohl so in die ****-Region?) wenn man ihm ein wenig Zeit lässt. Es springt einen nicht an in seiner Leichtigkeit und mit seinen feinen Exotismen (diesbezüglich hat Hamilton bzw. Fred Katz wesentlich dicker aufgetragen), aber es ist entsprechend auch nicht von dieser mitreissend-zwingenden Qualität, die ich etwa bei Curtis Amy, Harold Land oder Dexter Gordon und anderen Exponenten dessen, was ich etwas hilflos „Black California“ nenne, so schätze. Es fehlt auch die – nennen wir’s der Einfachkeit halber einfach mal… – „seelische Zerrissenheit“, die einen Art Pepper auszeichnete (damit meine ich jetzt mal mehr diese generelle Offenheit, Offenherzigkeit, in der Emotionen im Spiel preisgegeben werden, nicht das Klischee vom Junkie der eben nicht anders kann als seine kaputte Persönlichkeit zu offenbaren, sobald er mit seiner kaputten Lunge ins Horn rattert…)

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