Re: Paul McCartney ∙ Chaos And Creation In The Back Yard

Startseite Foren Die Tonträger: Aktuell und Antiquariat Aktuelle Platten Paul McCartney ∙ Chaos And Creation In The Back Yard Re: Paul McCartney ∙ Chaos And Creation In The Back Yard

#3426409  | PERMALINK

nes

Registriert seit: 14.09.2004

Beiträge: 61,722

Die neuen Songs in den Worten von Paul McCartney Fine Line
Die Grenze zwischen Mut und halsbrecherischem Handeln ist sehr schmal. Manche Leute legen einfach los und dann denkt man, „so muss man das also machen“, aber manchmal ist es auch einfach nur dumm und riskant, trotzdem glauben die Leute, sie seien mutig. Dieser Gedanke stand am Anfang des Songs, daraus entwickelte sich dann die Idee, dass man sich entscheiden muss, welches von den beiden man sein will – mutig oder riskant. Darauf basiert der Text. Dann setzte ich mich ans Klavier und begann mit diesem rhythmischen Thema, das ich ganz simpel ließ, und dann kommt die Hookline. Das brachte ich dann ins Studio und als ich es spielte, machte ich einen Fehler. Ich spielte die falsche Bassnote und Nigel sagte: „Das ist toll. Das ist es.“ Ich erwiderte, „Um ehrlich zu sein, ist die Note falsch.“ Aber er sagte: „Nein, nein, hör dir das an.“ Ich sagte: „Oh, ich verstehe, was du meinst“ Es ging einfach nicht so, wie man es erwartete. Es sollte ein Fis sein und wurde aber ein F. Das war gut, das hatte etwas sehr Originelles.

How Kind Of You
Ich achte schon lange darauf, wie die Leute sprechen, aber in letzter Zeit fällt mir verstärkt auf, welche Redewendungen sie benutzen. Ich habe ein paar ältere, traditionalistische Freunde, die anstatt „Thanks a lot“ immer „How kind of you“ sagen. Also fing ich mit so einem Satz an: „How kind of you to think of me when I was out of sorts“, anstelle von „Thanks very much for thinking of me when I wasn’t feeling so good“. Ich schätze eine solch elegante Ausdrucksweise sehr. Ich stellte mir vor, ich wäre so jemand, der einen derartigen Dankesbrief schreibt.

Jenny Wren
Ich spiele sehr gerne akustische Gitarre und deswegen habe ich in letzter Zeit Songs wie „Blackbird“, „Mother Nature’s Son“ und „Calico Skies“ gespielt, einfach weil die akustische Gitarre so schön ist. Ich war in Los Angeles und ich war einfach in der Stimmung, mit meiner Gitarre irgendwo draußen im Freien zu spielen. Also fuhr ich in die Canyons, ganz weit weg von all dem Verkehr, setzte mich hin und fing an zu spielen. Ich mag diese Art von Musik eben sehr. Ich hatte sehr viel Spaß, entwarf den Grundriss des Stückes da draußen, an diesem wunderschönen Tag, dann fuhr ich zurück, dahin, wo wir damals wohnten. Ich schrieb den Song dann fertig, während das Abendessen zubereitet wurde. Es ist schon merkwürdig, ich sprach neulich mit jemandem darüber, wie sehr ich Charles Dickens mag. Und derjenige sagte: „Ach, Jenny Wren, unsere gemeinsame Freundin“, denn sie ist eine Figur in Dickens‘ Roman „Our Mutual Friend“. Sie ist ein ziemlich cooles junges Mädchen, eine märchenhafte Gestalt, die das Gute in den Dingen sieht und ich glaube, unterbewusst war das der Grund, warum ich den Titel nahm. Aber ich hatte dabei eigentlich nur an „Blackbird“ gedacht. Der Zaunkönig (engl.: wren, Anm.) ist einer meiner Lieblingsvögel; ein kleiner englischer Vogel, der kleinste der heimischen Vögel und ich fühle mich immer sehr privilegiert, wenn ich einen Zaunkönig sehe. Das kommt also alles zusammen bei dem Song.

At The Mercy
Habe ich an einem freien Tag in L.A. geschrieben. Manchmal ist es so, wenn man ein Album aufnimmt, dass man ein Gefühl dafür bekommt, in welche Richtung man selbst und der Produzent sich gerade bewegen und was für eine Art neuer Song vielleicht noch zu dem passen könnte, was man schon aufgenommen hat. Ich habe so am Klavier vor mich hin gespielt und ein paar Akkorde ausprobiert, die mir gefielen, etwas dunkler als die, die ich sonst so nehme. Der Satz kam immer wieder in mir auf: „At the Mercy, At The Mercy“ – aber in wessen Gnaden? In Gnaden einer stark befahrenen Straße. Ich habe das gar nicht richtig beachtet. Was ich an meinen Songs unter anderem mag, ist dass sie eben sehr spezifische Bedeutungen bekommen, ohne dass das beabsichtigt ist. Ich erzählte Heather von dem Song und sie sagte: „Woha – ich war der Gnade einer stark befahrenen Straße ausgesetzt.“ Sie hat ja bei einem Unfall ihr Bein verloren. Das ist irgendwie sehr passend. Plötzlich wirft das Leben einem einen Brocken hin – man läuft nur so vor sich hin und plötzlich: „Oh Nein!“. Es ist eine ähnliche Szene wie bei „Maxwell’s Silver Hammer“. Am nächsten Tag brachte ich den Song zu Nigel und er sagte: „Klasse, klasse.“ Es wurde sein Lieblingssong.

Friends To Go
Das Eigenwitzige am Songschreiben ist, dass man sich so in andere Menschen hineinversetzen kann. Als ich „Long and Winding Road“ schrieb, dachte ich, ich sei Ray Charles. Bei „Friends To Go“ fiel mir auf, dass ich mich ganz in George Harrison hineinversetzt hatte. Das behielt ich auch die ganze Zeit im Hinterkopf. „I’ve been waiting on the other side for your friends to leave so I don’t have to hide“ – bei dieser Sequenz sehe ich George förmlich vor mir. Ich setzte mich einfach zum Komponieren hin, und dieses Gefühl, George zu sein, überkam mich. Und ich stellte mir vor, wie ich in einer belebten Wohngegend bin. Ich stehe gegenüber und beobachte die Menschen, die dort leben, und warte ich darauf, dass sie gehen, damit ich hinein kann. Ein Psychiater könnte sich bei diesem Song wahrscheinlich richtig austoben.

English Tea
Der Text geht: „Very twee, very me“, und ich muss sagen, der Text ist wirklich sehr typisch für mich. Ich bin einfach fasziniert von der Art, wie manche Engländer sprechen. Gerade die etwas Älteren, die „Would you care for a cup of tea“ sagen anstatt „Do you want a cup of tea“. Ich liebe einfach deren Art, sich auszudrücken. Ich habe also den ganzen Song in diesem typisch britischen Duktus geschrieben. Das ist sehr charmant, sehr britisch. Ich habe es sogar geschafft, das Wort „peradventure“ (veraltet für zufällig, vielleicht, Anm.) einzubauen, darauf war ich sehr stolz. Ich habe das aus einem Dickens-Roman. Man findet viele dieser veralteten Ausdrucksweisen in Dickens‘ Büchern. Ich habe sicherheitshalber noch mal im Lexikon nachgeschaut, ob es wirklich das heißt, was ich glaubte. Ich sagte mir, so ein Wort bauen bestimmt nicht viele Leute in ihre Songs ein.

Too Much Rain
Inspiriert wurde ich von Charlie Chaplins Song „Smile“. Viele wissen gar nicht, dass er das geschrieben hat, man kennt ihn nur als Komiker und ich war selbst erstaunt, als ich erfuhr, dass er dieses wunderschöne Lied geschrieben hat. Dieses Lied soll helfen, die Stimmung aufzuhellen, wenn es einem richtig schlecht geht. Es soll einen daran erinnern, dass man sich einfach herausboxen muss und die gute Laune nicht verlieren darf, denn alles kommt wieder ins Lot.

A Certain Softness
Für mich ist das ein ganz geradliniges Liebeslied. Ich mag brasilianische Musik. Ich finde sie sexy, sehr romantisch. Ich schrieb das Lied im Urlaub – das mache ich oft, denn da habe ich viel Zeit. So bin ich: Ich mache Urlaub, um zu arbeiten! Ich war auf einer Bootsfahrt in Griechenland, und plötzlich kam so eine Art römisches Gefühl über mich. Ich fand ein paar schöne Akkorde und dachte an eine gewisse Weichheit in ihrem Blick und an eine gewisse Traurigkeit, und das verfolgte mich. Es ist wie eine Art Synthese aller Liebeslieder, die ich je gehört habe. All das fließt zusammen und wird dann ein neuer Song. Ich mochte die Aufnahmearbeiten, die wir sehr einfach hielten. Ich spielte nur meine Gitarre, der Bongospieler saß auf dem Boden, und ein anderer Gitarrist saß noch herum. Das klingt auf dem Album dann eben sehr intim.

Riding To Vanity Fair
Eigentlich sollte das ein schnelles Stück werden. Das war der Song, den Nigel zunächst überhaupt nicht mochte. Das Stück war voll kurzer Sätze und er ermutigte mich, etwas anderes zu versuchen. Ich behielt die ursprüngliche Bedeutung bei: Man sucht Freundschaft, aber die anderen wollen einfach nichts davon wissen und weisen einen ab. Es geht hier nicht um eine bestimmte Person, sondern allgemein um Menschen, die sich so benehmen. Es ist schön, ein wenig trübsinnig und sehr launisch. Wir haben es im Studio überarbeitet und immer wieder daran gefeilt, bis wir alle Worte und die Melodie mochten, denn fast hätten wir es gestrichen. Aber als es fertig war, wussten wir, dass es auf das Album gehört. Die ganze Arbeit hatte sich gelohnt.

Follow Me
Das ist einer dieser Songs, die sich wie von selbst schreiben. Manchmal hat man einfach ein gutes Gefühl, wenn man über das eigene Leben nachdenkt, man freut sich, dass man zumeist viel Glück gehabt hat. Man fühlt sich gut. Ich hatte einen Auftritt, wo ich „Let it be“ gesungen hatte und dachte bei mir, wie schön es ist, so ein Lied zu haben, es ist fast schon spirituell und absolut ermutigend. Worum es hier geht? Um jemanden im Leben, der einem sehr wichtig ist, oder um gute Geister, irgendwas wirklich Tolles „You lift up my spirits, you shine on my song, whenever I’m empty, you make me feel whole, I can rely on you to guide me through any situation, hold up the sign that reads, follow me“. Das war einer dieser Songs aus reiner Inspiration.

Promise To You Girl
Das begann als Klavierstück. Die rechte Hand spielt ein bisschen die Melodie und dann bekommt der Bass die definitive Rolle, anstatt nur im Hintergrund zu wummern. Das war eine Rechenaufgabe für mich, ich überlegte, wie ich das hinkriege, und fing einfach an zu singen. „Gave my promise to you, girl. I don’t wanna take it back.“ Es entwickelte sich zu einer Art Motown-Nummer, ich konnte die Tamburine hören, das Chaka-Chaka, Motown-Typen wie die Funk Brothers im Hintergrund. So entwickelte sich also der Song und bekam den Motown-Touch. Eigentlich sind es zwei kleine miteinander verknüpfte Lieder. Als wir ins Studio kamen, war es mehrspurig, denn ich hatte selbst alles eingespielt. Ich glaube, ich habe mit dem Klavier angefangen, danach kam der Bass, dann etwas Schlagzeug und dann überredete Nigel mich, ein paar Gitarrenlicks dazu zu spielen, das war ziemlich kompliziert. Es sind also viele kleine Einzelteile, aber am Ende hört es sich doch an, wie von einer Band eingespielt.

This Never Happened Before
Ein klassisches Liebeslied. Ich finde, das ist in dieser Welt unheimlich wichtig – natürlich wird viel über die Liebe gesprochen und gesungen, aber was ist daran so schlimm? Es ist immer eine große Hilfe, wenn man ein paar schöne Akkorde hat und die ersten Akkorde der Strophe stehen, dann kann man sich mit der Melodie sicher sein und hat ein Ziel vor Augen. Dies war eines der ersten Stücke, die ich mit Nigel gemacht habe. Ich war in den Staaten und wurde gerade massiert, während das Lied lief. Die Masseurin schwärmte: „Oh, was für ein wunderbares Lied, toll!“ Sie erzählte mir nebenbei, dass sie bald heiraten würde, also schickte ich ihr ein paar Wochen später zur Hochzeit einen Brief mit dem Song und schrieb, wenn ihr das Stück so gefiele, könne sie es auf ihrer Hochzeit spielen. Ich bat sie jedoch, es bloß zu spielen und mir dann wieder zurückzuschicken, damit keine Raubkopien in Umlauf kommen. Ich versprach aber, ihr nach der Veröffentlichung eine offizielle Version zu senden. Sie heirateten und tanzten ihren Hochzeitstanz zu dem Stück. Sehr romantisch, aber irgendwie schön. Sie schrieb mir einen Dankesbrief und berichtete von der Hochzeit, von ihrem Mann. Sie schrieb: „Wir hatten einen wunderbaren Tag, wir haben gelacht und geweint.“ Das, finde ich, ist die Essenz dieses Songs.

Anyway
Das ging ziemlich schnell und ich hatte so ein Gefühl – warum fühle ich so etwas immer? Ich weiß nicht, auf alle Fälle kam ich mir vor, als wäre ich in den Südstaaten, Charlestown, Savannah zum Beispiel, irgendwie versetzten die Akkorde mich dahin. Dann kamen die anderen Akkorde, die ungefähr auf der Hälfte der Strophe beginnen und mich inspirierten. Als das Stück geschrieben war, fuhr ich nach L.A. und traf mich mit dem Arrangeur für die Saiteninstrumente. Das rundete das Ganze ab.

Hidden Track
Wir waren fast fertig und überlegten, wie es wäre, das Album mit etwas Improvisiertem zu beginnen, einem Geräusch, irgendetwas, was Aufmerksamkeit erregt, bevor das erste Stück anfängt. Ich mag es, wenn man mit den Regeln bricht. Nigel sagte: „Geh einfach und mach zwei Dinge gleichzeitig. Während du das eine machst, spielst du noch etwas anderes dazu“, also dachte ich, dem zeig ich’s, ich spiele drei Sachen. Das Piano wurde aufgebaut und ich fing an. Das nahmen wir zuerst auf. Es war, als ob die Erwachsenen das Studio verlassen hätten, und wir Kinder uns jetzt austoben dürften. Dann ging ich an die Drums und hämmerte auf ihnen herum. Das haben wir in einer knappen Stunde aufgenommen, aber es kam mir wie zehn Minuten vor. Letztendlich wählten wir nicht eines davon für den Anfang aus, sondern steckten alle drei zusammen und setzten das Ergebnis ans Ende.

September 2005

Quelle:WAZ

--