Re: My Best Of: 70s – reviews only

#3220609  | PERMALINK

mistadobalina

Registriert seit: 29.08.2004

Beiträge: 20,833

Seventies Best of

In gewisser Weise waren die 70ies ungeheuerlich. Die Stilvielfalt schien förmlich zu explodieren. Während die einen noch daran arbeiteten, das Raue und Ursprüngliche der Sixties zur musikalischen Könnerschaft zu bringen – und damit mitunter zu einer nervigen Ernsthaftigkeit – entwickelten sich woanders neue Subkulturen mit ganz anderen Tönen: laut und spielerisch kündeten sie von gesellschaftlichen Um – und Tabubrüchen. Dazwischen glänzte die Disco-Szene in sprühenden, bunten Farben und hinterließ so manches musikalische Kleinod – sei es der peppige Drei-Minuten Soul-Song oder das 20minütige ausufernde Monster-Stück – alles war möglich und alles fand statt.

The Doors – L-A. Woman (1971)
Das Jahrzehnt begann für mich mit einem Ende. Die Doors veröffentlichten ihr letztes Album mit Jim Morrison im Juni 1971. Ich liebte die vorab veröffentlichte Single „Love Her Madly“, ein fast beschwingt anmutendes Pop-Stück mit flirrenden Beatles-Gitarren und Ray Manzareks perlendem Orgelspiel. Das Album erstand ich in einem Plattenladen in Lübeck zusammen mit „Pendulum“ von CCR und „After The Goldrush“ von Neil Young vom ersten selbst verdienten Geld während eines Ferien-Jobs an der Ostsee. Das Album schockierte mich: Morrison polterte und schrie und die Musik wirkte rau und teilweise bedrohlich auf mich. Mir war nicht nicht so wirklich klar, dass das Bluesrock war, was ich hörte. Aber „Been Down So Long“, „Crawling King Snake“ und „Car Hiss By Window“ mit der teilweise sehr direkten sexuellen Ausstrahlung faszinierten mich. „L.A. Woman“ rollte regelrecht heran und steigerte sich in einen treibenden Rhythmus – nach wie vor eines der besten Intros der Rockmusik, das ich kenne. Und am Schluss des Albums dann das morbide „Riders On The Storm“ mit Gewitter-Sounds und mystisch klingendem elektrischen Piano – und Morrison singt sanft und intensiv wie nie. Wenig später erreichte mich die Nachricht seines Todes.

The Who – Who’s Next (1971)
„Baba O’Riley“ war ein Hinhörer. Alle Leute, die es zum ersten Mal hörten, fragten, was ist denn das? Na ja, es war ein Synthesizer und es klang absolut neu und sensationell. Noch toller war, dass es in den Studenten-Discos gespielt wurde und man danach tanzen konnte. Ebenso wie nach „Won’t Get Fooled Again“ mit absolut in die Zeit passenden Lyrics: „Meet The New Boss, The Same As The Old Boss“. Noch heute transportieren die Songs von „Who’s Next“ für mich das Lebensgefühl dieser Zeit. Inzwischen weiß ich, dass das Album ein wirklicher Glücksfall war, denn es wirkte wie aus einem Guss. War es aber nicht, sondern es besteht aus Überresten von Pete Townsends gigantisch konzipiertem „Lifehouse-Projekt“ und einigen neu dazu geschriebenen Songs. Die Band ist Höchstform und wird ergänzt durch Nicky Hopkins am Piano. Ein absolutes Meisterwerk der Rockgeschichte.

Roxy Music (1972)
Roxy Music sind die erste „richtige“ 70ies Band. Bei meinen Streifzügen durch die Plattenläden Göttingens war mir zunächst das Cover aufgefallen. Ein Pin-Up-Mädchen war vorne drauf, und wenn man das Cover aufklappte, sah man da ein paar ziemlich seltsam gestylte Typen. Ich stand nicht besonders auf Glam-Rock, das war damals Kinder-Musik und aus dem Alter war ich raus. Aber dies war irgendwie ernsthafter, künstlerischer und es hörte sich wirklich abgefahren und schräg an, wie ich gleich feststellen konnte, als ich mir die Platte noch im Laden anhörte. Ich kaufte die LP und trug sie nach Hause. Es war zunächst etwas anstrengend, sie zu hören. Blasinstrumente waren nicht unbedingt gängige Instrument in der Popmusik jener Zeit und Enos experimentelle Sythi-Eskapaden verwirrten den gemeinen Hörer noch zusätzlich. Dabei hat das Album auch auch ganz konventionelle Momente: „If Is There Something“ hat einen unverkennbaren Country-Einschlag und „Would You Believe“ ist purer Rock’n’Roll. Für mich war dieses einflussreiche Album lange vor Wave und Punk der erste wesentliche Kratzer am Lack von Prog Rock auf der einen und der damals herrschenden amerikanischen West Coast Music Langeweile auf der anderen Seite. Vier Wochen später gab’s die Meilenstein-Single „Virginia Plain“ – damals nicht auf dem Debut enthalten – und Roxy Music waren in aller Munde. Und sogar auf dem Fernseh-Schirm im „Musikladen“.

(Fortsetzung folgt)

--

When I hear music, I fear no danger. I am invulnerable. I see no foe. I am related to the earliest time, and to the latest. Henry David Thoreau, Journals (1857)