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Überlegungen zu Bruce
Ich sitze hier im alten Familienbunker auf Sanibel Island. Das hat mein Vater den Siebzigern gekauft für einen Preis, für den du heute eine Badezimmerarmatur kriegst. Aber wir wohnten in Arlingten und mein Vater war herzkrank, deshalb zog er sich immer dorthin zurück. Später mußten wir deshalb auch nach Deutschland zurück. Jetzt habe ich alle Springsteen-Platten um mich herum liegen und höre die Vinyl-Dinger seit Tagen durch. Da kommt viel zurück, was in den Texten der Songs liegt. Dieses „Racing in the streets“ erinnert mich immer an meine Jungen in Arlington. Die Stadt kennen alle bloß wegen dem Friedhof, aber eigentlich ist es eine nette Vorstadt mit Hügeln, Bäumen und einer Ebene nach Westen raus. Tote Hose. Und Abends versammelten sich die Jungs immer vor einem alten Diner „Joey’s Dive“ mit ihren Karren. Hier war es nicht wie in Deutschland, dass es Jugendclubs gab oder music halls, nichts organisiertes, jeder mußte sich eine Clique zum abhängen suchen. Und jedes Gespräch ging bloss um die Gegenwart, den Job des Alten und den Job, den sie nach der High School suchten. Hier gab es keine Industrie, bloß malls und Werkstätten und Supermärkte, in den sie als baggers ein paar Dollar verdienten. (dabei mußten sie den Einkäufern im supermarkt die Waren in eine Papiertüte stecken, und sie zum Wagen tragen). Musik wurde gehörrt, aber kaum darüber geredet. Ein, zwei Stadtteile waren bevölkert von den Leuten, die in Washington gute Jobs hatten, viele Ausländer, die zum Presskorps gehörten (wie wir) und kaum Anschluss hatten. Aber durch meinen Schulbesuch hatten wir keine Probleme mit Freunden. Ich gehörte zu den Jüngsten, und durfte immer dabei sein, aber die Macher waren die Großen. Viele hatten Verwandte in Vietnam, die sie zuerst cool fanden, und dann nur noch Angst um sie hatten. Viele schnappten sich einfach ihren Wagen – iirgendwelche aufgemotzten V8-machines unter der hood – und verschwanden. Wochen später kamen sie zurück, pleite, erfolglos, ein Pseudoausbruch, der sie wenigstens wieder für ein paar Monate beschäftigte. Sie hatten alle nur einen Helden – und das war der Boss.
Ich habe die harten Jungs, die ihre Rennen gegen die anderen fuhren und jedesmal Kopf und Kragen riskierten, bei Songs wie „Darkness“ weinen sehen. Sie saßen dann ganz still hinterm Lenkrad, rauchten, schwiegen, und lebten das Leben von Sonny oder sonst einem Boss-Helden. Das war lange vor „Born in the USA“ aber angezogen waren sie damals schon wie der Boss auf dem Cover. Dazu noch die Kippen in den Kurzärmeln der T-Shirts eingeschlagen. Dazu tranken sie das leichte Bud, ohne je richtig betrunken zu werden. Damals hatten die USA eine Rezession, immer mehr Väter hatten keine Jobs mehr, und reisten in die Metropole im Norden, blieben da ein paar Monate, verdienten was, und kamen zu den Familien zurück. Die meisten Jungs wuchsen da nur mit Geschwistern und der Mutter auf. Die Samstage verbrachten sie stundenlang beim Baseball. Ohne selbst zu spielen. Der einzige Plan, den sie hatten, war immer der, irgendwann abzuhauen, irgendwo hin, mit irgendeinem Mädchen, und nie mehr zurück zu kommen. Bruce erzählte es ihnen, und sie glaubten daran. Ich weiß noch, als der beste Freund meines persönlichen heros, Billie, weg wollte. „Are you hungry enough“ fragte er ihn. Und der nickte nur, stieg ein und fuhr einfach davon. Ich hab ihn nie mehr gesehen.
Das war alles so typisch american, worüber Springsteen sang, dass ich immer wieder erstaunt war/bin, dass der Boss in Europa so viele Fans hatte. Ich dachte immer, wenn ich in Deutschland war, was die Deutschen von dem Leben verstehen könnten, das Bruce besang. Das war doch so weit weg von allem, was sie kannten. Und auch jetzt, wenn ich „Born to Run“ oder „The River“ höre, habe ich immer noch das Gefühl, ich könnte ein neues Leben beginnen, wenn ich mich bloss ins Auto setzte und losfuhr. Irgendwo unterwegs, würde etwas passieren, das mir zeigte, wohin ich gehöre. Das klingt bloss für Europäer romantisch und mystisch, die Amerikaner nehmen die Geschichten von Springsteen direkt auf, nicht sublimiert, nicht als metapher, sondern als Rat, wie man sein Leben in die Hand nehmen kann.
So war das damals. Heute hat sich die Rezeption natürlich geändert. Dennoch ist die Wahrheit, die in den Songtexten steckt, unverändert eine, die geglaubt wird.
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