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nail75
Wenn man aber als Journalist arbeitet, dann muss man doch eigentlich über Bewertungsmaßstäbe verfügen, die es ermöglichen, Werke zu vergleichen. Ich bin daher einigermaßen entsetzt über Deine Aussage. Wie man zu diesen Bewertungsmaßstäben gelangt, ist mir egal, aber ich frage mich, wie Du als Journalist, der dafür bezahlt wird, ein Urteil zu besitzen und es zu kommunizieren, rechtfertigen kannst, Alben EINES KÜNSTLERS nicht miteinander zu vergleichen. Wenn irgendjemand Dich fragen würde, ob „Darkness“ besser ist als „The River“, würdest Du sicher nicht antworten: „Ach, ich weiß nicht, beide sind so schön rund und schwarz (oder rund und silbrig) und ich liebe ja eigentlich alle Platten, wie ich auch alle Menschen liebe.“Oder?
Lieber nail – mit Verlaub, da sieht man mal, wie wenig Du von Musikjournalismus verstehst (zumindest von dem Musikjournalismus, den ich vertrete).
Ich habe meinen Job noch nie als den des bezahlten Preisrichters gesehen (wie es z. B. einige Kollegen gerne tun). Ich strebe viel eher die Perspektive des Historikers an, der versucht, Strömungen, Entwicklungen, künstlerische Ansätze, Stile und Persönlichkeiten zu verstehen, zu erklären, zu sortieren, einzuordnen. Als ehemaliger Musiker halte ich überhaupt nichts davon, solche zweifelhaften Kriterien wie instrumentales Können, Kompositionsgenie, Produktion und was es da sonst noch alles gibt nach Punktesystemen in ein vorgeblich objektives, wissenschaftliches Bewertungssystem aufzunehmen. Wenn ich bei sowas mitmache, dann ausschließlich deshalb, weil die auf diese Weise entstehenden Listen nachweislich ein bei Musikmagazinen verkaufsförderndes Argument sind. Ich persönlich halte von solchen Listen rein gar nix. Denn: Musik ist Kunst. Und Kunst interessiert sich grundsätzlich nicht für solche Kriterien (höchstens Kunsthandwerker, von denen es in den Musikszene natürlich auch jede Menge gibt…).
Trotzdem sollte man all die Entstehungsbedingungen eines Werks sowie die Möglichkeiten/Limitierungen seines Schöpfers kennen (oder zumindest versuchen zu ergründen), um sich ein realistisches Bild von der Sache machen zu können. In der Musikkritik, besonders der einheimischen, gibt es mir deutlich zu viel Polemik und deutlich zu wenig Fachkenntnis, in meinen Augen der Hauptgrund für das jämmerliche Niveau hierzulande (ich lese Musikpresse/Rezensionen kaum noch). Ausnahmen, speziell beim RS, bestätigen die Regel.
Was Springsteen betrifft: Der Umstand, dass ich feststelle, dass seine Alben zu unterschiedlich sind, um sie in ein Ranking zu nehmen, beweist ja gerade, dass ich sie vergleiche
Ich bin halt der Meinung, dass sich selbst BTR, DOTEOT und TR nur sehr eingeschränkt nach den selben Kriterien beurteilen lassen, eben weil Springsteen alle drei Platten mit sehr unterschiedlichen Motivationen angegangen ist und zudem die E Street Band sehr unterschiedlich eingesetzt/geleitet hat. Von den sehr verschiedenen Produktionsbedingungen ganz zu schweigen.
Wenn mich also jemand fragen würde, welche Platte besser ist (BTR oder DOTEOT), dann würde ich antworten: Schwierig zu vergleichen, weil sehr unterschiedlich. Ich könnte höchstens versuchen, die jeweiligen Charakteristika (z.B. die schiere Wucht von BTR, die lyrische und auch musikalische Kohärenz von DOTEOT etc., beides gehört zweifelsohne zu den Stärken der jeweiligen Alben) und – vermeintlichen – Schwächen der Platten (hier angeblich zu viel Kitsch in der Produktion, da angeblich zu wenig Radiofutter, also schwaches Songwriting) zu nennen und so versuchen zu überprüfen, inwiefern die jeweiligen Arbeitsergebnisse Springsteens mit dem Album verbundenen Intentionen entsprechen, bzw. wie sehr er sie hat umsetzen können. Kurz: Ich würde meine Gegenüber in ein Gespräch über den Künstler und sein Werk verwickeln – wenn ihn das interessiert, wird er dabei bleiben, wenn er nur ein Urteil hören will, werden wir uns kaum etwas zu sagen haben.
All das aber hindert mich nicht daran (wie jeden Menschen, der zwei Ohren besitzt), die eine Platte zu lieben und die andere zu hassen – und das gelegentlich aus rein emotionalen Gründen.
Bezahlt übrigens werde ich nicht für irgendein Urteil, das ich liefere, sondern für mein redaktionelles Handwerk sowie, wenn ich als freier Autor auftrete, dafür, dass ich sauber recherchierte Beiträge abliefere, mit der die jeweilige Redaktion keinen weiteren Stress hat und die ein gewisses journalistisches Niveau hinsichtlich Sachkenntnis, Schreibstil und gewiss auch Aussagekraft erfüllen.
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