Re: Comic-Empfehlungen

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latho
No pretty face

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Ich habe gestern gesehen, dass ich hier schon länger nichts mehr geschrieben habe – also habe ich mich den Abend hingesetzt und nochmal einen meiner Lieblinge gelesen. Das alles, weil der Artikel über Cerebus sich so hinzieht …

Bourgeon – Reisende im Wind / Les passagers du vent

(1. Blinde Passagiere / La fille sous la dunette
2.Das Gefangenenschiff / Le Ponton
3.Handel mit schwarzer Ware / Le Comptoire de Juda
4.Die Stunde der Schlange / L’heure du serpent
5.Gefährliche Fracht / Le bois d’ebene)

Das 18. Jahrhundert ist ein prächtiger Schauplatz für Geschichten, es gibt noch nicht die Grenzen der Nationalstaaten, keine Beschränkungen durch Nationalitäten und ihre Passkontrollen. Die Welt war nicht erforscht, noch nicht so ein geheimnisloser Ort wie auf den Satelliten-Bildern des Raumfahrtzeitalters. Der Antrieb für die weiten Reisen war der Wind…
François Bourgeon (Jhg. ’45) war ursprünglich Glasmaler, wurde dann, der schlechten Auftragslage wegen, Comic-Zeichner. Nach Mitarbeit an der Mittelalter-Märchen-Serie Britta und Colin (Brunelle et Colin) begann er Ende der 70er für Glénat mit den Reisenden im Wind, einem der ersten europäischen Comic-Romane (graphic novel – abgeschlossene Geschichte, keine Serie). Das Handwerk des Glasmalers erscheint zunächst einmal für die Comic-Zeichnerei naheliegend: ganz klassische schwarze Strichzeichnungen, die mit Farbe ausgefüllt werden. Sieht man sich Bourgeons Bilder an, so gibt es schon Ähnlichkeiten, aber bei den Reisenden im Wind arbeitete Burgeon bereits mit einer stark erweiterten Farbpalette, die sehr stimmungsvolle Bilder schafft (die afrikanische warme Sonne, das kalte, klare Licht auf dem Atlantik) – also nicht die eigentlich naheliegenden Pastellfarben der ligne claire.
Seine Zeichnungen, sein Strich erinnert mich an Hermann. Wie bei Huppen auch sind Bourgeons Menschen nicht wirklich schön und das passt sehr gut zur Geschichte, in der die Charaktere alle keine Engel sind. Bourgeon zeichnet eigentlich unglaublich fein und detailliert (ich habe mal eine Bleistift-Zeichnung in einer Ausstellung gesehen und stand eine halbe Stunde davor, um alle Einzelheiten mitzubekommen), reduziert seinen Tintenstrich dann aber auf wenige Linien, um seine stimmungsvollen Farben anbringen zu können.
Bourgeon ist meines Wissens einer der ersten französischen Comic-Zeichner, der das Kastenschema der Comics (also rechteckige Panel folgt auf auf ebensolches Panel) unterbrach und mit großformatigen Bildern arbeitete, in die er kleine Insets malte, die Details zeigten, die für die Geschichte wichtig sind. Und seine Geschichte lebt von Details: Burgeon hatte die Idee zu den passagers beim Bau eines Schiffsmodells und so sind seine Schiffe (auf denen erwartungsgemäß ein Großteil seiner Geschichte spielt) von einer Detailverliebtheit und Authentizität, die ich aus keinem anderen Comic kenne. Die Sklavenhalterburg an der Küste Afrikas baute er ebenfalls als Modell, überhaupt wirkt sein Afrika unglaublich real, lebendig. Für seine Figuren fertigte Bourgeon Vorzeichnungen und Studien an, selbst für so etwas Banales wie die Hauptfigur, die eine Pistole abschießt. Und diese Detailverliebtheit ist nicht aufdringlich, ordnet sich der Geschichte unter:
1780 ist die junge Isabeau de Marnaye als Gesellschafterin für die Adelige Agnes de Roselande auf dem Schiff von Agnes Bruder im westlichen Atlantik unterwegs, als der junge Seeman Hoel die in der Kapitänskajüte versteckten Mädchen sieht. Isabeau, ein Freigeist, politisch wie sexuell und immer auf Gegenkurs zur gesellschaftlichen Realität, vertraut sich Hoel an und erzählt im ihre Geschichte, ein Drama von Shakespeare’scher Wucht. Hoel wird entdeckt und festgenommen, was wiederum eine Kette von Ereignissen nach sich zieht, Morde, Verschwörungen und eine Seeschlacht. Und das alles im ersten Band!
Die Handlung führt dann über Inseln im Atlantik und Gefangenenschiffen in englischen Sümpfen über Frankreich zur Küste Westafrikas (die Bücher über den Sklavenhandel sind äußerst interessant) und endet dann in den karibischen Inseln. Das alles ist aber keine Abenteuergeschichte klassischen Zuschnitts (trotz der umfangreichen Recherche), Bourgeon hat komplexe Charaktere erschaffen, die ihre Schwächen und Stärken haben (Männer kommen bei Burgeon eher schlechter weg). Personen auf der Suche nach Liebe, Geborgenheit und Freundschaft, die sich treffen, kennen lernen und wieder trennen, denn das Leben ist bei Bourgeon wie der Wind, frei, launisch, manchmal grausam und immer unvorhersehbar. „Sie ist wie der Wind“ sagt Isabeau über ihre Freundin Mary und meint auch sich selbst, Menschen auf der Suche, die getrieben werden (vor allem im Fall der Sklaven) und die sich treiben lassen. Für Isabeau (und den Leser) endet die Geschichte an einem Strand bei Santo Domingo mit dem zweitschönsten Satz der Comic-Geschichte „Freitag, den 29. März 1782 … An jenem Tag hätte ich beinahe vergessen, dass ich erst 18 Jahre alt bin und schließlich noch das ganze Leben vor mir habe.“ Und hoffnungsvollen Bildern, die man nicht vergisst.


(Isabeau findet während der Seeschlacht
einen schwer verwundeten Schiffsjugen)

Die Reisenden im Wind habe ich bei Carlsen nicht mehr finden können, die Vorzugsausgabe mit allen Bänden in HC ist sehr teuer. Man muss dazu sagen, dass das Lettering merkwürdig ist und die Übersetzung schlecht (lieber Übersetzer, „Maschinengewehre“ hatte man 1780 noch nicht, auch nicht in England – Karronaden da-gegen schon). Wer also französisch kann…
Ganz neu: meine „amazon-Anmerkungen“! Wer das liest, mag auch: Burgeons Folgewerke, die unglaublich gute Fantasy-Mittelalter-Emanzipationsgeschichte „Gefährten der Dämmerung“ und die neueste Serie „Cyann – Tochter der Sterne“, die etwas daran krankt, dass ich auf neue Bände im Durchschnitt 5 Jahre warten muss.

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If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.