Startseite › Foren › Kulturgut › Print-Pop, Musikbücher und andere Literatur sowie Zeitschriften › Die Drucksachen › Das Comics-Forum › Comic-Empfehlungen › Re: Comic-Empfehlungen
So, lange nichts geschrieben. Und weil ich neulich nicht schlafen konnte und stundenlang den Druck am meiner Wand angesehen habe, gibt’s heute einen Rückgriff auf meine Top Ten:
Le Tendre/Loisel – Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit (La quête de l’oiseau du temps)
1: Schatten über Akbar (La conque de Ramor)
2: Der Tempel des Vergessens (Le temple de l’oubli)
3: Grauwolfs letzter Kampf (Le rige)
4: Das Ei der Finsternis (L’Oeuf des ténèbres)
Die Queste, also die Reise, die Suche, die Erfüllung einer Aufgabe ist nicht unbedingt nur in Fantasy-Romanen zu finden, aber im Bereich Fantasy gehört sie zum Muss. Der legendäre Ritter Bragon lebt auf seiner Hof-Burg, älter werdend, friedlich und zu Tode gelangweilt. Bis eines Tages Pelissa bei ihm auftaucht, Pelissa mit den Riesen-Brüsten (plot device!) und ihrem merkwürdigen Schoßtier Pelzchen. Sie sei die Tochter von Bragons ehemaliger Geliebter Mara (über den Vater läßt sie sich nicht aus) und die Welt sei in Gefahr (der Hintergrund ist nicht wichtig). Bragon macht sich auf sein letztes Abenteuer…
Liest sich der erste Band noch wie ein intelligenter, witziger (hat meinen Comic-Lieblingswitz) Fantasy-Thriller, wird spätestens im zweiten Band klar, dass die Hauptpersonen eine Verabredung mit dem Schicksal haben.
Und so hetzen Bragon, Pelissa und „der Unbekannte“ (den der Leser kennt), verfolgt von Bragons Feind, dem brutal-dümmlichen Bullrog durch diverse exotische Länder (exotisch heißt in diesem Fall nicht: an realen orientalischen Ländern bedient, sondern wirklich neu erfunden) – und so „fantastisch“ ist es ja auch nicht: Monster, die die Form einer Mohn-Knospe haben, eine unheilbare Krankheit, die über das Blut übertragen wird und die Szenerie des letzten Aktes sieht nicht umsonst wie eine antike griechische Theaterbühne.
Serge Le Tendre mischt Action und gelegentlich derbe Witze zu einer wirklich einmaligen Mischung, die unaufhaltsam auf das Ende zusteuert: Verrat, Verzweiflung, Wahnsinn sowie einen kleinen Hoffnungsschimmer. Und schließt mit einem der schönsten Sätze aus der Comic-Geschichte ab: „‚Es ist ein Leid, daß nur ein ‚Mann‘ [im Gegensatz zu einem Jüngling] kennt, Bruder … es heißt Erinnerung“
Régis Loisels barocke Bilder waren und sind eine Klasse für sich. Am Anfang detailliert wurden die Bilder im Lauf der Serie flächiger, ohne aber ihre Verspieltheit zu verlieren: kleine Details in Flora und Fauna (das Fliegetier, das immerzu scheißt), die die Welt zum Leben erwecken (was die meisten SF&F-Comics nicht schaffen). Und dann dieser ungeheure Erfindungsreichtum, jeder Band hat eine andere fantastische Kultur zum Mittelpunkt, jeweils in unterschiedlichen Farbpaletten koloriert. Im Fantasy-Comics-Bereich gibt es eine Zeitenwende: vor und nach Loisel. Die Monster, die bei Loisel nicht spitze Eckzähne hatten sondern riesige spitze Schneidezähne, habe ich später in diversen anderen Comics gefunden.
Ein Wort zur Rezeption: man findet viele Sachen (Comics, Bücher, Filme, Musik, entschuldigung: Tracks) „gut“, „*****“ etc. Aber um es in die „Top Ten“ zu schaffen, gehört meines Erachtens noch eine persönliche Dimension dazu. Den ersten Band des Vogels habe ich mir auf dem zweiten Comic-Salon geholt (ich hatte ihn schon in einer anderen Ausgabe gelesen) und von den Le Tendre/Loisel signieren lassen. Ich machte eine Bermerkung zu Loisel über die Menge Arbeit, die er hätte (damals konnte ich noch ein bisschen Französisch) und er stieg auf seinen Stuhl und blickte indianermäßig die überschaubare Reihe der Wartenden hinunter. Sechs Jahre später, nach Abschluß der Reihe musste man fast eine Stunde warten, nur um ein Autogramm von Loisel zu bekommen (die beiden signierten nicht mehr zusammen). Und Jahr für Jahr kam danach ein neuer Band raus, sobald die Ankündigung erschien, rannte ich in den Kiosk. Der letzte Band war heiß erwartet, denn ich wusste, dass Le Tendre sich bei der Handlung nicht „rausreden“ würde, sondern mit einem Tusch aufhören würde und enttäuschte überraschenderweise nicht. Ich saß im Zug auf dem Heimweg vom Zivildienst, schlug das Heft zu und sagte „Boah“ (und alle Mitreisenden sahen mich befremdet an). Ähnlich ging es Freunden und Verwandten, die ihn lasen. Comics werden besser, wenn man 1 Jahr lang auf sie wartet…
Der Comic hatte eine durchschlagende Wirkung: erst neulich fiel mir auf, dass die großen Verlage neben Manga vor allem franco-belgische Fantasy-Comics im Repertoire haben. Und als einzigen Älteren den Vogel der Zeit …
Le Tendre verzettelte sich danach in irgendwelchen Projekten, Loisel machte Peter Pan und bewies welche Klasse er als Zeichner hatte und wie mies er als Texter war. Von beiden hörte man immer weniger. Bis 1998 der erste Band eines star-wars-mäßigen Prequels erschien: „Javin“, Bragons Jugendabenteuer. Das Schlimmste war zu befürchten: The Phantom Menace! Und was soll ich sagen: der Band ist sehr gut, eine schöne Geschichte über Jugend und Freundschaft. Das Warten hat wieder begonnen…
Alle 5 Bände gibt es bei Carlsen als Hard- und Softcover. Sollte mal eines vergriffen sein, kann man das Fehlende leicht besorgen. Ich habe außerdem noch den zweiten Band in französisch mit Vorzeichnungen von 1975 (!), noch komplett anderer Stil. Außerdem meinen Schatz: die relativ seltene Carlsen-HC-Gesamtausgabe, signiert von beiden Künstlern. Wer die sehen will muss vorher ein polizeiliches Führungszeugnis vorzeigen. Hier die offizielle Site.
--
If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.