Re: Comic-Empfehlungen

#2701265  | PERMALINK

kapitaen-haddock

Registriert seit: 09.06.2004

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lathoUnd wer glaubt, mein letzter Tip wäre abgehangen gewesen…

Hergé – Tim in Tibet (Tintin au Tibet)

Über Tim und Struppi (oder Asterix) zu schreiben ist wie über die Beatles und Stones zu schreiben. Jeder kennt sie, jeder ist Experte und irgendwie ist alles gesagt.
Und doch… ausgehend von einem schönen Artikel im Comics Journal habe ich mir Tibet nochmals durchgelesen, die Qualität ergibt sich aus den Hintergründen.
1967 war Hergé etabliert – die Neuzeichnungen von Tim (die wiederum Neuzeichnungen der Originale aus den 30ern waren) verkauften sich fantastisch, die Studios Hergé waren eine Ausbildungsstätte für fast die komplette frankobelgische Zeichnerriege der 70er. Die Anschuldigungen aus der Nachkriegszeit (Kollaboration mit den Deutschen) lösten sich langsam auf, Hergé verdiente Geld.
Und doch war er in einer tiefen Krise – nach über 20-jähriger Ehe hatte er sich in eine Mitarbeiterin verliebt, was den alten Katholiken in Schuldgefühle stürzte und heftige Depressionen auslöste. Er hatte bizarre Alpträume in denen er in weißen Landschaften festgehalten wurde, sein Psychater riet ihm, den Job aufzugeben.
Statt dessen tat Hergé das Gegenteil und schrieb/zeichnete einen neuen Comic – in weiß. Er verzichtete auf Gewalt, in dem Comic sollte kein Böser auf tauchen, es sollte ein Werk über Freundschaft werden: Tim in Tibet.
Tim macht sich auf die Suche nach seinem Freund Chang, der bei einem Flugzeugabsturz im Himalaya vermisst wird, trotz der Aussichtslosigkeit der Lage gibt Tim nicht auf, nur getrieben von einem Traum, den er hatte (Träume spielen eine große Rolle vor allem diesem Tim-Band).
Man erlebt die Figur Tim, diese „Karrikatur“ (Hergé), der wie Micky Maus und andere charakterlich eigentlich komplett blank ist , eine reine Projektionsfläche, ungewöhnlich emotional.
Über die Zeichnungen muss man nicht viel sagen – diese meisterhafte Reduktion komplexer Bilder auf diese eine, perfekte Linie (ligne claire), analog die perfekte Farbgebung (einfach einmal Die Schwarze Insel ansehen – traumhaft schön) – das ist meisterhaft und unverwechselbar (ähnlich wie Péyo).
Die Handlung ist tatsächlich frei von Gewalt, es taucht kein Schurke auf (nicht mal der Yeti ist böse), Action entsteht durch Haddock (damals war es noch erlaubt Witze über Alkoholiker zu reißen) und die Gefahren der Bergwelt. Die Szene, in der der Käpt’n an einem Seil hängend abstürzt und das Seil zerschneiden will, um Tim nicht in den Abgrund zu ziehen, soll ein Hergés Sinnbild für seine ehelichen Probleme gewesen sein. Gerettet werden die beiden durch einen Freund.
Tim ergreifend? Doch das gibt’s.

Ich halte besonders die Figur des Kapitäns für ausgesprochen gelungen. Schiffsjunge Tim ist ja mehr so eine Randfigur.

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