Re: Comic-Empfehlungen

#2701227  | PERMALINK

latho
No pretty face

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Nachdem ja doch noch Leute diesen Thread lesen (willkommen im Forum, Fone Bone) schreibe ich doch noch etwas, heute einmal einen echten Klassiker:

J.-M. Charlier / Jean Giraud: Chihuahua Pearl/ Der Mann der $ 500000 wert ist / Ballade für einen Sarg (Chihuahua Pearl / L’homme qui valait 500.000$ / Ballade pour un cercueil)

Charlier (der französische Autor neben Goscinny) und Giraud (alias Möbius) hatten in den 60ern mit ihrer Western-Serie „Blueberry“ angefangen, ganz im franko-belgischen Stil, realistisch, schön coloriert und erbauliche Indianergeschichten für Jungs.
Aber die End-60er/Früh-70er änderten alles. Die französische Szene versuchte sich an Erwachsenen-Comics (Métal hurlant) und Giraud begann mit LSD und Peyotl zu experimentieren. So wie bisher ging es nicht weiter und das Autorenpaar benutzte das alte Schlachtross Blueberry um neue Ausdrucksformen zu finden.
Charlier brachte das Kunststück fertig, den alten Idealisten Blueberry leicht angeschrammt in eine zynische, harte Westerwelt zu versetzen, analog zu den Italo-Western (auch die Schauplätze verwandelten sich in Wüsten), ohne den Charakter zu verändern und trotzdem eine fast klassische Geschichte zu erzählen.
Giraud hatte seinen Zeichenstil verfeinert, wirkte detaillierter, so dass die Geschichten realistischer wirkten. Gleichzeitig übernahm er aber auch die Colorierung (in europäischen Comics immer wichtiger Bestandteil) – und behielt die Palette seines Alter-Egos, des SciFi-Drogen-Experimentierers Möbius bei. Das Ergebnis ist ein unwirklicher Fiebertraum, der die Westergeschichte weit über die Werke von contemporains heraushebt.
Die erste Geschichte im neuen Stil, die vergessene Goldmiene/Das Gespenst mit den goldenen Kugeln war noch Experimentierfeld (ist auch verfilmt worden), mit dem Dreierschlag ab Chihuahua Pearl begannen die beiden eine Geschichte, von der Möbius noch heute (nach dem Tod von Charlier) zehrt: das trinkende und glücksspielende Wrack Blueberry wird beauftragt geheim nach der verschwundenen Kriegskasse der Südstaaten zu suchen, die in Mexiko versteckt sein soll. Zum Schein wird er aus der Armee ausgestoßen und macht sich auf den Weg nach Mexiko, Hinweise soll die Witwe eines Südstaatlers haben, die dort als Sängerin arbeitet.
Charlier behält auf bewundernswerte Weise die Übersicht über die verschiedenen Handlungsstränge (die vor allem aus Gruppen bestehen, die hinter dem Gold her sind) und liefert ein düsteres Ende ab, das zunächst einmal das Ende der Blueberry-Geschichten hätte sein können.
Die realistischen Zeichnungen Girauds bei gleichzeitiger psychedelischer Farbenpracht verleihen der Geschichte eine Unwirklichkeit, die damit die Geburtsstunde des Drogen-Westerns darstellt.

Nach diversen Wechseln scheint Blueberry jetzt wieder bei Ehapa angekommen zu sein – die Bände sollten sich leicht beschaffen lassen.

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If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.