Re: Plattenläden: Eine Übersicht

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DIE ZEIT

18/2005

Rillen der Liebe

Kleine Plattenläden trotzen der Krise der Musikindustrie – mit Fachkenntnis und Leidenschaft. Fünf Ortsbesichtigungen

Von Ulrich Stock

Viele an Kultur interessierte Menschen hören keine aktuelle Musik, weil sie nicht wissen, welche. Nicht an Offenheit fehlt es ihnen, sondern an Orientierung. Rundfunk und Fernsehen haben ihren Informationsauftrag der Einschaltquote geopfert. Wie also sollen Erwachsene, zumal ältere, die nicht mehr durch die Clubs ziehen, mit neuen Klängen in Berührung kommen?

Hier sei die verblüffende Antwort gegeben. Im Plattenladen!

Jenseits der Mediamärkte gibt es in allen größeren Städten kleine und kleinste Geschäfte, die von ihrer Fachkunde leben. Wir haben einige besucht. Die Auswahl ist subjektiv. Möge sie den Blick darauf lenken, wie konträr zum Prozess der kulturwirtschaftlichen Konzentration Vielfalt und Verfeinerung gedeihen, allen Musikfreunden zur Ermutigung: Wenn sich selbst einzelne Händler der Krise der CD-Branche entziehen, können es die vielen Hörer doch erst recht.

München: Die Tonträgergeneration

Die Münchner Firma Hausmusik ist im vergangenen Sommer umgezogen, in die Waltherstraße. Zur Zeit des größten Wehgeschreis der Musikindustrie hat Eigentümer Wolfgang Petters, 42, gemietete gegen gekaufte Räume eingetauscht. Während der Renovierungsarbeiten, erzählt er, hätten immer wieder Leute in das Eckgeschäft gegenüber dem Südfriedhof hineingeschaut, und es habe sich stets derselbe Dialog entsponnen:
»Was kommt hier denn rein?«
»Plattenladen.«
»Ah, CDs.«
»Auch. Aber vor allem Schallplatten.«
»Wie, gibt’s die noch? So alte?«
»Nein, neue.«
»Ach, kann man die verkaufen?«
»Sonst würden wir’s nicht machen.«

Petters ist sich bewusst, in einer Nische zu wirtschaften, aber, sagt er, »die Nische ist viel größer, als die Öffentlichkeit annimmt«.

Sein Umsatz, der nicht nur aus dem Laden, sondern auch aus Mailorder, Label und Vertrieb anderer Label entsteht, habe in den vergangenen Jahren je um ein Drittel zugelegt. Seine Erfahrung deckt sich nicht mit der allgemeinen Wahrnehmung, die sich von der effektiven PR-Arbeit des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft irremachen lässt.

Petters, grau meliert und grob rasiert, in einem früheren Leben oberbayerischer Elektromeister, ist mit Schallplatten aufgewachsen und hat CDs nur widerwillig in sein Sortiment aufgenommen. Aus dem Stand hält er ein Plädoyer für das Vinyl: Umdrehen sei doch viel schöner als Nichtumdrehen, aus dem Muster der Rillen ließe sich schon auf die Musik schließen, kurzum, die Platte sei sinnlicher und dinglicher und persönlicher als eine CD.

Seine Kundschaft nennt er die »Tonträgerkaufgeneration«: Leute zwischen 30 und 50. Vor zehn Jahren seien die noch zwischen 20 und 40 gewesen, »das war der Höhepunkt«, in zehn Jahren würden sie zwischen 40 und 60 sein. Er ist darauf eingestellt, mit ihnen zu altern.

Und die 25-Jährigen? »Das ist die Download-Generation, auf die eine Plattensammlung keinen Reiz ausübt. Die sagen: ›Das hab ich alles auf dem Rechner.‹ Kann also sein, dass es in 20 Jahren so etwas wie Tonträger nicht mehr gibt.« Deshalb ist er dabei, ein Online-Angebot vorzubereiten. Demnächst soll man die Hausmusik-Titel gegen einen Obolus auch übers Netz auf den Computer laden können. Das iTunes-Prinzip. Petters macht es mit, weil von seinem Geschäft mittlerweile neun Haushalte leben; es wäre gefährlich, die Augen vor rasanten Entwicklungen zu verschließen. So wird er als kleiner Händler mal schnell ein Angebot einrichten, für das die deutsche Industrie Jahre gebraucht hatte und das, als es – unter dem Namen Phonoline – im vergangenen Frühjahr vom Kanzler persönlich eingeschaltet wurde, nur wenige Monate überlebte, weil das Konzept hinten und vorne nicht stimmte.

Was Musik angeht, ist München ein Paradies. Der schönste Plattenladen der Stadt, und vielleicht der Republik, ist Optimal. In der Kolosseumstraße, einer unscheinbaren Gasse, erstreckt sich eine imposante Fensterfront und dahinter ein lichtes, wohl 20 Meter langes Geschäft. Acht Plattenspieler in der Mitte des Raumes laden zum Probehören jener Alben ein, die entlang der Wände aufgehängt sind. Man kann bei Optimal auch CDs kaufen, aber wie bei allen unabhängigen Läden dominiert die Schallplatte. Dies wird für viele, die sich vom Musikgeschehen verabschiedet haben, eine Überraschung sein: Wer nicht weiß, was los ist, brennt zu Hause noch seine Plattensammlung auf CD, weil er das praktischer findet und die Platten hinterher bei eBay verkaufen möchte. Während viele Konsumenten noch an die CD glauben, hat sich die Geräteindustrie längst von ihr abgewandt und propagiert die DVD. Die Musikindustrie zieht mit, denn wenn die DVD sich durchsetzt, kann sie die alten Beatles- und Police-Aufnahmen bald ein drittes Mal verkaufen. So ist bei der Jahrespressekonferenz der Phonographischen Wirtschaft das schönste Plus immer das des DVD-Absatzes – obwohl in Deutschland immer noch mehr Vinyl als DVD verkauft wird.

Optimal-Geschäftsführer Christos Davidopoulos, 45, Grieche, Diplomphysiker, Chaosforscher, gibt auf die Frage nach der Zukunft des Tonträgerhandels die gleiche Antwort wie andere Händler: Vinyl wird bleiben, die CD wird möglicherweise verschwinden, und ob die DVD sich durchsetzt, müsse man abwarten. Ob die Zukunft im bezahlten Herunterladen liegt? Sicher ist er sich da nicht.

Bremen: Eine musikalische Ambulanz

Während oben Unbeweglichkeit herrscht, ist an der Basis Bewegung. Adem Mahmutoglu, 31, ein deutscher Türke von äußerster Eloquenz, die er mit einer rötlichen Hornbrille noch betont, führt im Urlaub Couch Club in Bremen einen ambulanten Plattenladen, 33rpmRecords. An der Tür steht: »Entspann dich, du bist am Ziel.« Zwei Tage die Woche, montags und dienstags, stellt er tagsüber in der sonst nur abends geöffneten Gaststätte am Fehrfeld seine Plattenkisten auf. Independent, Elektronik, Jazz. 500 LPs, 400 CDs. Um auf sein flüchtiges Geschäft hinzuweisen, hat er Werbemanschetten an den Lichtmasten im Steintorviertel befestigt.

Mahmutoglu ist ein Musikverrückter. Hört er im Gespräch von ihm unbekannten Bands, notiert er sich gleich ihre Namen. Klar macht er auch selber Musik, mit seiner Band Faruk Green, und auch hat er mit Freunden ein Label, das schon durch seine bunte Veröffentlichungskultur vom Üblichen absticht: eine Vinylmaxi, zwei LPs, vier Vinylsingles, eine CD und drei Kassetten…

In der Hauptsache betreibt er aber einen richtigen Laden, 60 Kilometer weiter, in der Innenstadt Bremerhavens. Vielleicht könnte der etwas besser laufen, vielleicht treibt ihn ein Expansionsgelüst, jedenfalls wird er seit Monaten wöchentlich zweimal in Bremen vorstellig, und siehe, es kommen auch ein paar Leute vorbei, so 25 bis 40 am Tag, sagt er, »und es lässt auch mal einer 100 Euro da«.

»Die Leute finden das Konzept ziemlich fresh. Das ist nicht so ein Dienstleistungsladen, so nach dem Motto: Was ist gerade in den Blablabla-Charts?« Bei allem Spezialistentum legt er Wert darauf, auch ein paar Mainstream-Platten im Angebot zu haben, Robbie Williams, Madonna, Deep Purple, Metallica … sein Zugeständnis an die Ökonomie.

»Wenn ich Sohn eines Scheichs wäre«, sagt er, »hätte ich vielleicht keine Metallica dastehen.« Ein Kunde, der unser Gespräch mithört, ruft: »Wenn wir Söhne von Scheichen wären, hätten wir alle einen Plattenladen.« – »Nein«, korrigiert sich Mahmutoglu spontan, »wenn ich Sohn eines Scheichs wäre, würde ich The Sea & Cake buchen, und die würden mich morgens wecken statt eines Radioweckers.«

The Sea & Cake – eine raffinierte Postrock-Band aus Chicago … wovon ein türkisch-hanseatischer Plattenhändler so träumt!

Köln: Das Gefühl der Unendlichkeit

Ein Albtraum die Visite bei a-musik in Köln: Wer sich für ausgefallene Musik begeistern kann, sollte gleich sein Portemonnaie an der Kasse abgeben und darum bitten, vom Inhalt die Rechnung zu begleichen und den fehlenden Rest zu stunden. Das Spektrum des Angebots umfasst alle Richtungen, alle Kontinente, alle Formate. Hier treffen entlegenste Dinge völlig unvermittelt aufeinander. In einem Fach stehen The Best of Dean Martin und die Drei Kantaten von Hans Werner Henze nebeneinander. Man braucht starke Nerven dafür.

Inhaber Georg Odijk, 35, hatte als Schüler schon zu handeln begonnen, den Laden nannte er passend Georgel. A-Musik, das es demnächst zehn Jahre gibt, war ursprünglich im Zimmer einer WG untergebracht, Souterrain, die Decke niedrig, die Luft schlecht. Nebenan hinter einer Schiebetür war die Küche, und wenn sich jemand ein Spiegelei briet, blieb das nicht unbemerkt. Schon bald – übers Internet angelockt – kamen Aficionados aus fernen Ländern vorbei, und sie konnten das immer gar nicht fassen, dass es sich bei dem international bekannten Geschäft um einen Einmannbetrieb handelte. Odijk hatte anfangs nur drei Tage die Woche auf, an zwei Tagen verkaufte er Jalousien, von irgendwas musste er ja leben.

Wahrscheinlich gibt es deutschlandweit keine größere Kompetenz für das musikalisch Außerordentliche. 30000 Titel, zwei Drittel des Umsatzes kommen durch den Versand, die Hälfte davon sind Bestellungen aus Europa, Amerika und Japan. Längst ist a-musik an den Kleinen Griechenmarkt umgezogen, und sie arbeiten zu mehreren. Gerade erst wurde jemand für die Buchhaltung eingestellt. Er habe Glück gehabt, sagt Odijk, ein freundlicher Experte mit Hornbrille, Turnschuhen und geblümten Hemd. Er sei zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, Köln war mit Mouse on Mars und anderen Gruppen das Zentrum der elektronischen Musik, und a-musik verkaufte, was in der Stadt entstand oder für interessant gehalten wurde.

Manchmal fragt er sich, was an musikalischen Innovationen eigentlich noch kommen soll, »aber es geht ja irgendwie doch weiter«, und die schiere Menge des schon Vorhandenen gibt ihm »ein Gefühl von Unendlichkeit«. Lange hatte er den Anspruch, alles zu kennen, was er verkauft, kürzlich hielt er erschrocken eine Platte in der Hand, von der er nichts wusste. Es gibt so viel, da kommt selbst er an seine Grenzen.

Berlin: Neuware direkt vom Erzeuger

So etwas wie a-Musik in Klein ist dense in Berlin, in der Danziger Straße am Prenzlauer Berg. Obwohl auch dense immer größer wird; gerade ist man in der Danziger ein paar Eingänge weitergezogen, ins Haus Nummer 16, um die größeren Räume gemeinsam mit dem Staubgold-Label zu nutzen.

Mitinhaber Annibale Picicci, 34, ist staatlich geprüfter Kulturwissenschaftler, seine Magisterarbeit über Kultur und Ästhetik des Rauschens in der Informationsgesellschaft am Beispiel von Thomas Pynchon und Don DeLillo steht für zehn Euro im schmalen Musikbücherregal zum Verkauf.

Er berät seine internationale Kundschaft auf Englisch, Französisch und Italienisch, und niemand verlässt den Laden ohne neue Erkenntnisse. Dense wurde im Februar 2003, mitten in der Krise, gegründet, »ehrlich gesagt, wir haben uns da gar nicht drum geschert. Wir wussten, es gibt Leute, die würden in so einem Laden kaufen, wenn es ihn gibt.«

Prinzip ihres Geschäftes ist es, alles zu haben, aber von den Rändern her. Sie führen – was Jazz angeht – das Art Ensemble of Chicago, nicht aber den gesamten Miles Davis. Sie verkaufen den Techno von Kompakt und Thomas Brinkmann, nicht aber Sven Väth. Stockhausen ja, Beethoven nein. »Manche Kunden verwirrt das, weil sie es nicht genau verstehen«, gibt Picicci zu. Aber er hält die radikale Auswahl für entscheidend. »Je omnipräsenter der Mainstream wird, desto stärker wird das Bedürfnis nach anderer Musik. Am Rand findet Bewegung statt, da verwirklichen sich neue Ideen und finden ihre Form.«

So ist Dense ein akustisches Feinkostgeschäft mit besten Verbindungen zu den Erzeugern. Musiker gehen ein und aus. Sei es, um Platten zu holen, oder auch, um sie zu bringen. Manche Neuerscheinung wird vom Künstler persönlich angeliefert. Schneller kann man an neue Musik nicht kommen.

Geschwindigkeit spielt auch eine Rolle bei Hard Wax am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg. Dort, im zweiten Hinterhof im dritten Stock ohne Fahrstuhl, befindet sich einer der größten Umschlagplätze elektronischer Musik in Deutschland. Gewaltige Lautsprecher säumen die Wand, vom groben Betonboden ist der Putz abgeplatzt, urbaner geht es kaum. Gehandelt werden fast ausschließlich Schallplatten, meistens Maxis, und pro Woche kommen 100 neue Titel rein. Sich informieren und kaufen ist eins. Wer nicht zugreift, kann nächste Woche schon Pech haben, und das Zeug ist weg. Nachbestellt wird im Promillebereich. Hard Wax ist ein reißender musikalischer Fluss, aus dem sich das Berliner Clubleben speist. Wenn hier etwas hochgehalten wird, kann es zwei Wochen später der Hit der Nacht in der ganzen Stadt sein. So kommen gute Kunden zweimal in der Woche, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Andererseits gibt es Klassiker, die sich seit 1989 verkaufen, als Mark Ernestus den Laden eröffnete. Damals war er die erste Quelle für House und Techno aus Detroit, Chicago und New York. Mangels E-Mail und Internet musste die Ware anfangs aufs umständlichste herantelefoniert werden, »da kostete die Minute Amerika noch vier Mark«. Inzwischen hat sich das Angebot sehr erweitert, Ernestus, 42, produziert unter dem Namen Rhythm And Sound weltweit gefragten elektronischen Dub, und er spürt, was alle spüren, die engagiert mit Musik zu tun haben: Die Zeit dominierender Stile ist vorbei, es gibt keine per se langweilige Richtung mehr, es gibt in allen Sektoren interessante Ansätze. »Für jedes Subgenre existiert heute ein Publikum von Kanada bis Neuseeland. Das Globale ist das Interesse an lokalen Phänomenen.« Früher seien für ein großes Label 10000 verkaufte Platten ein Flop gewesen, heute seien 1000 Exemplare ohne Marketing viel.

Hamburg: Kilometerlang schwelgen

Beenden wir unseren Streifzug in Hamburg. Hier muss man gar keinen Plattenladen mehr empfehlen. Man spaziert einfach durchs Schanzen- und Karolinenviertel. In der Feldstraße sind drei Läden, im Schulterblatt drei, in der Wohlwillstraße drei, in der Schanzenstraße zwei, in der Marktstraße einer. Und in den Seitenstraßen gibt’s noch welche. Im Umkreis von einem Kilometer existiert möglicherweise die höchste Plattenladendichte Europas. Wer sich hier einen Tag lang umhört, kann in Tonträgern schwelgen. Wer will da noch von Krise sprechen?

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