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Anonym
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NRZ vom 16.02.2005
Nahaufnahme, weit weg
MUSIK-EVENT / Über ein Lausch-In auf Zeche Zollverein: Marius Müller-Westernhagen stellt seine neue Platte vor.
ESSEN. Keiner könnte Marius Müller-Westernhagen vorwerfen, wenn er auch bei seinem 22. Album der Versuchung des Selbstzitats erläge. Ist schließlich ein granatenerfolgreiches Konzept. Und würde er Stagnation und Wiederholung nicht zur Innovation verklären und seine neue Platte nicht unangebracht überhöhen, wäre ja alles gut. Aber schon der krampfige Auftakt dieses seltsamen Lausch-Ins auf Essens Zollverein-Zeche weist in eine andere Richtung. Gekommen, um die „Nahaufnahme“ vor dem Verkaufsstart am 21. Februar zu hören und zu wiegen, werden die 300 Geladenen über einen mit schwarzem Tuch abgehängten Pseudo-Laufsteg genötigt und mit atonalem Krach beschallt. Achtung, Kunst!
Achtung, Happening!
Im Saal die nächste Irritation. Aus dem Dunkel tritt Westernhagens Ehefrau Romney vor, enthüllt im Scheinwerferlicht mit großer Geste einen – CD-Spieler! Augenblicke danach, die Blässe, die schmalen Hüften und dürren Beine sind immer noch da, schreitet der 56-Jährige selbst auf die Bühne. Im Nadelstreifen-Designeranzug und mit Erich-Honecker-Brille nähert er sich mit einer Fernbedienung in der Hand scheu dem Abspielgerät, wirft einen verstörten Blick ins Publikum, die Musik setzt ein, und MMW entschwindet im Dunkel. Achtung, Happening!
Kein Live-Ton, wie vorher angepriesen. Kein Konzert, nicht mal ein Kurzauftritt. Was folgt, sind 14 Lieder, eine Premiere aus der Konserve, die Texte zum Mitlesen in einem mit Raschelpapier drapierten Mäppchen hinterlegt. Diagnose des Schnelldurchlaufs: Balladen meist, stark Country-, Cajun- und Blues-inspiriert, ein wenig Bar-Jazz, alles gediegen, so spektakulär wie Zuckerduft für die Fruchtfliegen. Nur einmal rockt es kurz. Das Stück heißt „Daneben“.
Es gab Zeiten, da sagten Westernhagens Platten mehr über den Zustand der Republik aus als Wahl-Resultate oder Börsenkurse, damals, in den 80ern, als er Ohrwürmer als blutige T-Bone-Steaks servierte. Millionen hörten sich hungrig an dieser stadiontauglichen Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Baukastenlyrik, grölten mit all die mit dem Hammer gefeilten Refrains. Vorbei, satt. Der neue, der alte Westernhagen ist leise geworden, umkreist aber noch immer, zwischen lakonisch und manieriert, die ewigen Themen von Liebe, Glaube und Einsamkeit; ohne eine originelle Sprache zu finden. „Schwach ist der Wille / Müde das Fleisch / Und hättest du schwimmen gelernt / wärst du vielleicht reich“. Heißt es in „Georgie“. Und in „Ignoranz“: „Ich pisse ein Loch / in den jungfräulichen Schnee / Ich erklär es zu Kunst / das tut keinem weh.“ Westernhagen singt nicht, er rezitiert, folgt der brüchigen Macht seiner sperrigen Worte, nicht der musikalischen Logik. Mag sein, dass er wieder die Seele derer trifft, die ihm glauben. Der Rest spürt Langeweile.
Am Ende inszeniert der Mensch Westernhagen ein wenig Öffentlichkeit, stellt sich den braven Fragen des Musikjournalisten Alan Bangs. Belanglosigkeiten, die man schon in viele Mikrofone hat wabern hören; mit zwei Ausnahmen. Westernhagen nimmt für sein Werk tatsächlich in Anspruch, sich anders als andere von den „Marktgegebenheiten“ nie „limitieren“ zu lassen. Ausgerechnet bei „Nahaufnahme“?
Und auf die Frage, warum er entgegen allen Beteuerungen ab Herbst nun doch wieder auf Tournee gehe, erfährt man etwas über echte Märtyrer-Qualitäten: Bei einem Konzert von Sting in London habe er registriert, wie viel das den Menschen bedeute. „Und du fauler Sack, du ziehst dich aus der Affäre“, habe er sich sodann selbst beschimpft – und seiner Konzert-Abstinenz entsagt.
Ach, wenn du geschwiegen hättest.
Die Erich-Honecker-Brille gefällt mir besonders gut. :cool:
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