Re: Willie Nelson

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sonic-juice
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Kai BargmannDas folgende bezieht sich naturgemäß nicht auf die WN-LPs der 60er, da ich sie nicht kenne, sondern fasst meine Eindrücke von diversen Rock-Aufnahmen aus der Zeit zusammen:

1. In vier Jahrzehnten hat der technische Fortschritt auch vor der Musikalienindustrie nicht halt gemacht: Bessere Instrumente, Verstärker und nicht zuletzt Mehrspurtechnik erlauben heute in jeder Hinsicht bessere Aufnahmen. (Digitalisierung und Formate habe ich dabei nicht berücksichtigt).

2. Es gab damals – notgedrungen – ein anderes Aufnahmeverständnis: Mehr Raum, also indirekter klingender Aufnahmen, während heutige Aufnahmen sehr viel direkter und damit knackiger klingen, mehr Frequenzgang und eine ganz andere Dynamik haben, weil du (fast alles) einzeln abnimmst.

3. Wovor es mir in den Sechziger am meisten graust, waren die damaligen Moden und Marotten: Angefangen vom übermäßigen Gebrauch von Hall bis zu unseligen Stereo-Mixen á la Gesang links, alle Instrumente rechts, wie bei den frühen Beatles zu hören. Brr!

Damit will ich keineswegs alles gutheißen, was heute geschieht – es wird sicher zuviel komprimiert (damit meine ich nicht mp3s, sondern Dynamikkompression) und zuviel mit ProTools rumgespielt, was es oft unecht klingen lässt.

Da weilstein schon Ryan Adams genannt hat: Ethan Johns hat z.B. mit „Gold” eine Referenzaufnahme gezaubert. Hör mal die Balladen wie „La Cienega Just Smiled”, wie da die beiden Gitarren stereo im Raum stehen, das Schlagzeug räumlich gestaffelt ist und der Gesang voll davor. That’s the way to do it!

Dass sich die Aufnahmetechnik in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich weiterentwickelt hat, ist selbstverständlich. Ob das immer zum Guten geschah, ist schon fragwürdig. Dylan beklagte ja letztens, dass es frustrierenderweise selbst mit allergrößten Produktionsanstrengungen nicht gelänge, den Charme alter Aufnahmen aus den 50ies zu reproduzieren, was man tatsächlich seinem letzten Werk „Modern Times“ anhört (das Bemühen wie das Scheitern). Oft genug gab es zwischenzeitlich die Flucht in lo-fi, home oder field recording. Im übrigen scheiden sich ja schon an dem von Dir ins Rennen geschickten Beispiel Ryan Adams die Geister, da „Gold“ vielen als zu glatt und kantenlos produziert erscheint (was sicherlich nicht isoliert für „La Cienega Just Smiled“ gilt).

Nach meiner Wahrnehmung besteht etwa seit Mitte bis Ende der 50er ein technischer Standard, der einem im besten Fall höchste audiophile Wünsche erfüllt – selbst in Mono. Belege dafür gibt es unzählige. Wie könnte etwa „Kind Of Blue“ von Miles Davis unter heutigen Aufnahmebedingungen noch besser klingen, wie Johnny Cash’s Sun-Aufnahmen?

Van Gogh würde heute wohl auch mit besseren Farbmischungen hantieren können, Chaplin hätte bessere Kameratechnik und hochwertigeres Filmmaterial zur Verfügung, aber hindert einen das am Genuss der Sonnenblumen, wäre ein unter heutigen Produktionsbedingungen gedrehter „Modern Times“ besser, sollte ich deshalb nur fotorealistische Gemälde von Gerhard Richter oder Jerry-Bruckheimer-Großproduktionen in Dolby Surround goutieren können?

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