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Der Tagesspiegel von heute:
Lammcurry Gottes
Die Ankunft eines ganz besonderen Herrn: Rufus Wainwright in der Berliner Passionskriche
Von Gregor Dotzauer
Wenn Gott in seinen Häusern schlafen geht, knipst er das Licht nicht einfach aus. Der Tag verdämmert, die Helligkeit wird abgesaugt: ein vorübergehender Weltuntergang, in Glas und Stein gefasst. Man muss nur einmal in der Berliner Passionskirche zusehen, wie sich die Rosetten nach und nach verfinstern. Die bemalten Fenster mit Jesu Gefangennahme in Gethsemane, der Kreuzigung und der Kreuzabnahme erlöschen, bis nur noch das hintergrundbeleuchtete Altarkreuz glüht. Aber Gott soll jetzt nicht schlafen gehen. Tausend Seelen wachen in dieser pseudoromanischen Backsteinburg und warten auf die Ankunft eines ganz besonderen Herrn. Die Orgelpfeifen auf der Empore bedrohliche Nachtschattengewächse, die auf Holzbänken zusammengedrängte Menschenmasse eine schemenhafte Hydra.
Dann quietscht kolophoniumverschmiertes Tierhaar über gequältem Violingedärm. Es ächzt, als würde jemand zum ersten Mal ein Streichinstrument ausprobieren, doch im nächsten Moment wogt es schon vom Flügel her, und über einem gleichmäßigen Grundton erhebt sich klagend eine Stimme, seine Stimme: „Agnus dei, agnus dei, qui tollis peccata mundi“ – Lamm Gottes, das du trägst die Schuld der Welt. Er singt es mit seiner ganzen einschmeichelnden Schärfe, ein Drittel bulgarischer Mönch, ein Drittel romantische Heulboje, ein Drittel Soubrettenbariton, drei Viertel Crooner und ein Viertel abgestürzter Rockstar – mehr als genug für ein Sängerleben.
Rufus Wainwright ist da. Und wie er da ist: in Jeans und grünem Filzjäckchen mit gerüschten Ärmeln, ein rotes Hütchen auf dem Kopf. Ich wollte ein bisschen Piraten-Jenny und Dreigroschenoper spielen, wird er gleich erklären und mit einer Puppe im Arm vor dem Mikrofon so tuntig herumzappeln, dass der liturgische Auftakt wie die pure Blasphemie wirkt. Aber das alles sind Rollen, und für fünf Minuten sind sie so ernst gemeint, wie es seine Dramolette erfordern: die Liebesarien („Vibrate“) und die sonnigen Ohrwürmer („California“), die pathetischen Vaudeville-Nummern („Cigarettes and Chocolate Milk“) und die schmissigen Balladen („Grey Gardens“). Und die sechs Musiker, die sie mit ihm zusammen zurechtzupfen und -klöppeln, allen voran Drummer Matt Johnson, geben zu Wainwrights Klavier- und Gitarrenspiel nach Bedarf das schwelgende Orchester oder die treibende Band.
Das „Agnus dei“ eröffnet auch das aktuelle Album „Want Two“ (Geffen Records), das in den vergangenen Wochen eine Hymne nach der anderen auf sich zog, als hätte der 31-jährige Songwriter aus Kanada nicht zuvor schon drei genauso eigentümlich zwischen den Genres changierende CDs aufgenommen – „Poses“ vor allem. Jetzt hat man ihn endgültig zum Weltstar erklärt, und dass auch das eine Rolle ist, in die er sich mühelos hineinfindet, gibt er inzwischen auch von der Bühne herunter zu verstehen. Und wenn es bis vor kurzem zu den vermeidbaren Standards des Rufus-Lobes gehörte, auf seine musikalische Familie hinzuweisen, so lässt er einem im Konzert gar keine Wahl mehr.
Mit einem Lied für die singende Mama Kate McGarrigle („Beauty Mark“), den singenden Papa Loudon Wainwright III („Dinner at Eight“) und die singende kleine Schwester Martha („Little Sister“), die er in einem hinreißenden Klassik-Pasticcio als Mozartsches Nannerl imaginiert, das sich mit ihm in einen pianistischen Rausch hineinspielt, in dem sich ihr Haar in eine gepuderte Perücke verwandelt – nur dass das Nannerl fünf Jahre älter war als Mozart.
Als es danach unter Jubel auf die dritte Stunde zugeht, wird es Zeit für „Old Whore’s Diet“. Wainwright, längst im ärmellosen Mackenzie-T-Shirt, nestelt an Oberteil und Hose und entblättert sich, auch die anderen stehen plötzlich nackt da. Wainwright aber, nur noch umhüllt von roten Ringelstrümpfen, einem Body mit Ausschnitt bis zum Nabel und glitzernden Pailletten im Schritt, ist schon wieder ein Stück angezogen. Auf seinem Kopf prangt eine Krone, ein Paar Schmetterlingsflügel ziert seinen Rücken, und mit dem Becken rührt er in den Latin-Rhythmen der „Hurendiät“ – nichts weiter als den Worten „I love you“. An diesem Abend schallt ihm aus einer ganzen Kirche das Hohelied der Liebe zurück.
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out of the blue