Re: Amazon

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go1
Gang of One

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Die hr-Reporter verteidigen sich hier gegen die Kritik an ihrer Reportage.

Auch unabhängig vom aktuellen Fall kann man sich mal die Frage stellen: Was nützen eigentlich solche Boykottaktionen wie jetzt die gegen Amazon?

Meine Antwort lautet: Das hat man nicht in der Hand. Wenn es wenige tun, ändert sich sowieso nichts, und wenn es viele tun, hängt es davon ab, wie der Konzern auf die Lage reagiert. Und das ist offen. Falls das Unternehmen dauerhafte Umsatzeinbußen befürchtet, kann es sich sagen, okay, die Imageverbesserung ist uns eine Investitionen wert. Dann werden irgendwelche Maßnahmen beschlossen und viel PR betrieben, ein neuer „Wertekodex“ verabschiedet oder ähnliches, und vielleicht fällt für den einen oder anderen Beschäftigten etwas dabei ab. Vielleicht wechselt der Konzern seine Zulieferer aus. Oder die Geschäftsführung sagt sich: Morgen wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben, das sitzen wir aus; wenn wir vorübergehend weniger verkaufen, senken wir entsprechend die Kosten. Dann werden die Leiharbeiter, die nicht mehr benötigt werden, eben wieder ausgestellt – dafür hat man doch dieses Instrument: für die schnelle Anpassung des Personals an die Marktlage.

Es stellt sich hier auch die Frage nach der Alternative: Man wird nicht aufhören zu kaufen; wenn man dem einen Verkäufer den Rücken kehrt, wird man Kunde von anderen Firmen. Was weiß man über die Arbeitsbedingungen dort? Wie werden dort die Lagerarbeiter oder Verkäufer behandelt, was verdienen sie? Wenn man das nicht weiß, riskiert man, dass man mit seinem Boykott genau die Verhältnisse unterstützt, gegen die man etwas tun will – nur eben jetzt bei anderen Firmen, die sich ähnlich verhalten, ohne dass im Fernsehen darüber berichtet wird. Dann hat sich die Überausbeutung nur verlagert, aber nicht vermindert.

Im Prinzip nutzen Unternehmen nur die Möglichkeiten aus, die Marktlage und Rechtslage ihnen bieten, um ihre Kosten zu drücken und ihre Erlöse zu maximieren. Eine wirksame Hilfe müsste deshalb politisch durchgesetzt werden: Bedingungen, unter denen es den Arbeitern leichter fällt, sich zu organisieren und Zugeständnisse von den Unternehmen zu erkämpfen. Der Arbeitsmarkt müsste neu geordnet, die Machtverhältnisse müssten geändert werden. Da kann man sich manches vorstellen: Hilfreich wären z.B. ein höherer Hartz-IV-Satz und das Ende der Hartz-IV-Sanktionen; dann könnten die Lohnabhängigen bei schlechten Angeboten leichter Nein sagen. Die Leiharbeit könnte so verteuert werden, dass sie sich nur noch bei ganz kurzfristigen Einsätzen lohnt und wirklich nur noch bei Auftragsspitzen genutzt wird. Das setzt politische Neuregelungen durch den Staat voraus. Die Politik hat die Verhältnisse allerdings genau so eingerichtet, wie sie jetzt sind, und hat dafür ihre Gründe. Die Ausweitung der Leiharbeit ist genauso gewollt wie der Aufbau des Niedriglohnsektors, in dem inzwischen jeder fünfte arbeitet – beides gilt als „strukturelle Verbesserung“, die „Dynamik“ in den Arbeitsmarkt bringt, die Investitionsbedingungen verbessert und den Standort im globalen Wettbewerb stärkt. Veränderungen sind da vorerst nicht zu erwarten.

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To Hell with Poverty