Re: Jörg Böckem – "Lass mich die Nacht überleben"

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ford-prefect
Feeling all right in the noise and the light

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Vorhin war ich auf der Lesung von Jörg Böckem in Heidelberg. Sie fand nicht im Konzertsaal statt, sondern eine Etage höher im kleinen Coco Loco-Café. Im intimen Kreis trug Böckem dann eine Stunde lang die wichtigsten Kapitel aus seinem Buch vor, anschließend kam es zu einer offenen Fragerunde.

Böckem konzentrierte sich in seiner Lesung darauf, den Zuhörern zu vermitteln, aus welchen Gründen ein Mensch damit anfängt, harte Drogen wie Heroin und Kokain zu nehmen. Es habe was „Verwegenes und Verbotenes, durch Drogen bekam er früher ein tolles Wohlbefinden, er hatte seinen Spaß am Wochenende“. Böckem war früher Punk und Heroin-Junkie, ein Dasein, dass er als junger Erwachsener liebte und genoss. Mit Anfang 20 fing er seinen ersten Entzug an, als er körperlich merkte, dass er in einem halben Jahr tot sein wird, wenn er nicht seinen Lebenswandel radikal ändert. Böckem brauchte mehrere Anläufe und Therapien, wurde oft ruckfällig, bis er dann 2001 endgültig den Absprung aus der Drogen-Szene schaffte. Bis dahin hat Böckem aber viele seiner Freunde bereits durch harte Drogen sterben sehen. Durch seinen Drogenkonsum häufte der Autor einen großen Berg an Schulden an, daneben ist er mit Hepatitis infiziert. Dafür hat Böckem aber noch seinen Job als freier Journalist, eine Tätigkeit, die ihn mit voller Leidenschaft ausfüllt.

Jörg Böckem legte in der Lesung auch den Schwerpunkt darauf, dem Publikum näher zu bringen, welche körperlichen und psychischen Qualen und Höllen-Schmerzen ein suchtkranker Mensch durchleiden muss. Trotzdem wolle er sich aber nicht mit seinem Buch als Moralapostel vorne aufstellen, mit seiner Biographie will Böckem nur einen authentischen Erfahrungsbericht wiedergeben. Die letztendliche Wertung demgegenüber und was man für eine Einstellung zu Drogen haben soll, diese Entscheidung überlässt er den Lesern selbst.

Eine der interessantesten Stellen fand ich die Schilderung von Jörg Böckems Treffen zum Interview mit Iggy Pop im Sommer 1999. Damals hatte Böckem noch regelmäßig gedrückt. Er trug immer langärmelige Pullover, auch im heißesten Sommer, nie T-Shirts, damit niemand seine geröteten und zerstochenen Arme sehen konnte. Böckem hatte Angst, dass Iggy Pop seine Heroin-Sucht bemerken würde, war doch sein einstiges Jugend-Idol selbst jahrelang User. Ex-Junkies haben ein Auge für Heroin-Süchtige. Kurz vor dem Interview mit Iggy hatte sich Böckem zur Beruhigung noch mal eine Spritze gesetzt. Der Urvater des Punk blieb aber cool und freundlich und erkannte nicht den heruntergekommenen Junkie in Böckem. Oder Iggy ließ es sich zumindest nicht anmerken.

Nach der Lesung hab ich mir dann noch das Buch von Jörg Böckem gekauft und ließ es mir vom Autor mit Widmung signieren. Jörg ist auf jeden Fall ein sehr netter und offener Mensch. Ein schöner Abend. Das Buch kommt nächstes Jahr auf die Theaterbühne und wird verfilmt.

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Wayne's World, Wayne's World, party time, excellent!