Re: Tom Waits in Berlin

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Heute aus dem Kölner-Stadt-Anzeiger:

Der Großteil des Programms speiste sich aus den Songs des aktuellen Albums „Real Gone“.
Wenn es überhaupt noch einer Demonstration bedurft hätte, dass Tom Waits ein Künstler von herausragender Eigenartigkeit ist, dann wären die 120 Minuten im Berliner Theater des Westens erstklassiges Anschauungsmaterial gewesen: Waits erscheint auf der Bühne mit hektischen Bewegungen, lässt Arme und Beine wie Schießgewehre nach vorne schnellen und winkt dem Publikum zu – aber bloß mit den äußersten Fingergelenken, ein abartiges Grinsen zur Schau stellend. Zum Finale findet er den Backstage-Ausgang nicht, hüpft wie ein Derwisch von der einen zur anderen Bühnenseite – vergeblicher Abgangsversuch, Zugaben!

Was zwischen diesen beiden Szenen passierte, sollte den Ruf des 54-jährigen Musikers und Schauspielers als Entertainer in Arbeit festigen. Doch womit würde er sein Publikum diesmal überraschen? Er verschwendete keine Sekunde des Abends mit einer Greatest-Oldies-Show. Der Großteil des Programms speiste sich aus den Songs des aktuellen Albums „Real Gone“, das nur zum Teil in einer Reihe mit seinen über 20 Vorgängern steht.

Seit seinen letzten Deutschland-Konzerten vor fünf Jahren hat Tom Waits sich auf der Bühne rar gemacht. Tickets für das Theater des Westens (mit 110 Euro für einen Parkettplatz alles andere als günstig) wurden mit bis zu 500 Euro gehandelt. Mehr Waits gibt's diesmal eben nicht. Dafür hat so ein Konzert die Intensiv-Garantie.

Waits ist ein Mann des Unterstreichens, Sich-Verausgabens und gnadenlosen Verstärkens. Er bellt, beißt, barmt, knarrt, gurgelt, er zischt und stottert, und er raspelt mit seiner Stimme Bluesholz. Waits fährt Marc Ribots lyrischen Gitarrenerkundungen mit voller Kehle vors Kontor: „Im burning up all this pain / you gotta make it rain / you gotta make it rain.“ Zum Ende des Songs schnappt er sich ein riesiges Megaphon und verschwindet mit seiner Stimme im metallenen Rund. Himmel, jetzt hat er sich auch noch Tanzschritte dazu ausgedacht!

Die Posen, die Waits reicht, wirken wie kurze Rock-n-Roll-Comics, absurd, abrupt und garantiert nicht aus dem Lehrbuch. Mehr verschämt als wild. Haben wir da die Knie knacken gehört? „Swordfishtrombones“ war 1983 der Startschuss für jene neue Waits-Ära jenseits der romantisch verklärten Schmuddel-Bar-Boheme der frühen Jahre, für den Stil, den man längst mit ihm (und nur mit ihm) verbindet: Furcht erregend scheppernde Hybriden aus den Urmassen der regionalen Popkulturen, wahlweise scharf oder sentimental gemacht. Seitdem lassen sich bestimmte Linien in seinem familiär gewordenen Ruvre besonders gut verfolgen, die Rhythm-and-Blues-Babys, die Polka-Enkel und die Balladen-Onkels, die morbiden.

Wenn man die aktuellen Erzeugnisse auf „Real Gone“ dazunimmt, erhält nun auch der HipHop einen Stammbuch-Eintrag – in Form der mundgeblasenen Rhythmen, die Waits im heimischen Badezimmer für Tracks wie „Top Of The Hill“ und „Shake It“ aufgenommen hat. Auf der Bühne rumpeln diese Rhythmen in voller Pracht vom Band, großenteils jedenfalls, die Band (neben Marc Ribot Bassist Larry Taylor und Drummer Brain) spielt das Wesentliche mit unwesentlichen Nuancen zum Album und hält das Unternehmen „Real Gone“ im Fluss.

Atmosphärisch liegen Distanzen zwischen den Songs: der fulminante Paranoia-Pop von „Don't Go Into That Barn“, das stille Anti-Kriegs-Lied „Day After Tomorrow“. Tom Waits erhält an diesem Abend Extra-Applaus für den Swing, den er aus „Table Top Joe“ vom Album „Alice“ kitzelt. Plötzlich singt das ganze Theater mit, Waits bedankt sich auf der Stelle: „Ich weiß nicht, ob ich euch individuell oder als Gruppe bezahlen soll.“ Natürlich spielt er sich selbst, den filmreifen Conférencier, das Monster aus den eigenen Alpträumen, den kruden Weismacher. Die Anekdoten gehören dazu: Wenn Waits vom Spinnenmännchen berichtet, das mit den Beinchen am Netz zupft, um das Weibchen zu locken, ist das auch eine Ich-Erzählung: „Letzten Endes sind alle Songs über Mädchen.“

Nach zwei Stunden wollte kein Mensch Tom Waits gehen lassen. Minutenlanger Applaus – dafür, dass da einer war, der Schönheit und Reichtum der Musik, Wahrhaftigkeit und Wahnsinn auf so etwas wie einen Bierdeckel zaubern konnte. Am Ende hörten wir „Shake It“, einen blendenden Boogie mit Waits in der Form seines Lebens. „Jockey Full Of Bourbon“, die finale Zugabe, war still und voller Dynamik. So etwas gelingt nur ganz wenigen.

(KStA)

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