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The Rolling Stones – Sticky Fingers (1971)
01. Brown Sugar ***1/2
„Brown Sugar“ ist Teil zwei der von mir so genannten „Single-Trilogie zweifelhafter Etablissements“, die die Stones mit „Honky Tonk Women“ begannen. Die Trilogie beginnt mit dessen „gin-soaked barroom Queen in Memphis“, macht einen Schlenker ins New Orleans zu Zeiten der Sklaverei zu einer mutmaßlichen Tochter einer „Tentshow Queen“ („Brown Sugar“) und findet ihren Endpunkt in „Tumbling Dice“, der Hommage an abgerissene Spielerspelunken mit Hinterzimmervergnügungen. Um „Tumbling Dice“ herum wurde dann schließlich sogar eine ganze Doppel-LP gebaut, die fast zur Gänze in und vor Kneipen spielte und deren Texte sich in der Kotze am Bordsteinrand spiegelten, falls das nach den Gesetzen der Optik überhaupt möglich ist. Allesamt jedenfalls raue Orte, auf das die Rauheit auf die Band abfärben möge.
Von der Trilogie gefällt mir „Tumbling Dice“ am besten, weil es sich windet und den Groove hinter sich herschleppt, während „Brown Sugar“ eben der Riff-Rocker ist, der schon bei „Honky Tonk Women“ gut als Single funktionierte, den ich mir aber mittlerweile nicht mehr freiwillig antue – außer ich binde mir aus einem inneren Zwang heraus Stones-Alben-Track-By-Track-Projekte ans Bein.
„Brown Sugar“ ist Southern Soul-Dampf. Die Gitarren werden übersichtlich verwoben, die Musik prägt sich gleich ein, die filthy Bläser fügen sich gut und körperlich ein, „Browwwn Suga!“ ist mitsingbar. Kurz: Der Song ist zum Hit gezwungen worden. Ich kann’s zwar nicht mehr so recht mit Genuss anhören, finde aber, die Stones haben einen guten, wenn auch keinen herausragenden Stampfer abgeliefert. Man rockt beschwingt und doch etwas bedrohlich voran, der Text liefert eine schöne Gelegenheit, einen Sklavengaleeren-Beat drunterzutrommeln. Die Stones standen ja damals unter ziemlichem Druck, von wegen erster Platte auf eigenem Label, länger nichts veröffentlicht, Post-Altamont, Steuerflucht. Da war die Zukunft der noch nicht mal zehn Jahre existierenden Band alles andere als gesichert. Insofern gibt der Erfolg von „Brown Sugar“ ihnen recht. Es war die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit.
02. Sway ****1/2
Dunkel anschleichender Rhythm & Blues, noch ein bisschen auf der Dämonenwelle reitend, die sich ja bekanntlich in Altamont jäh brach. „Sway“ kann den magischen Bann musikalisch gut umsetzen. Der geheimnisvollste Track auf „Sticky Fingers“.
03. Wild Horses ****1/2
Wenn man sich in letzter Zeit unzählige Male durch den Krach von „Some Girls“, „Emotional Rescue“ und „Dirty Work“ gehört hat, wird man leicht ungeduldig, wenn dann sowas wie „Wild Horses“ um die Ecke trabt, wie schön es auch sein mag. Früher für mich ein sicherer Fünfsterner, scheint mir diesmal der Song etwas unnötig lange auf der Stelle zu stehen. Wilde Pferde? Kommt in die Hufe, verdammt nochmal! Ok, das ist ungerecht. Es soll gar nicht rocken, es soll gar nicht rollen. Es soll folken und wird dabei vom dezent im Nudie Suit gekleideten Gram Parsons herbeigewunken. Und wie vieles, was von Gram Parsons herbeigewunken wurde, endet es nicht ohne Trauer und Leid. Schöner Song nach wie vor, einen halben Stern hat er aber auf seinem gemächlichen Weg durch die Prärie verloren. Macht immer noch viereinhalb.
04. Can You Hear Me Knocking *****
Da bin ich mit den Richards-Riff-Verklärern, nein –Verehrern: Das ist wirklich ein tolles Gitarrenmotiv, das er da zu Anfang raushaut. Auch der Rest ist ohne Fehl und Tadel. Mit das Perfekteste, was die Stones je abgeliefert haben. Selbst den damals grassierenden Santana-Latino-Touch, der die zweite Hälfte des Songs bestimmt, wuppen sie grandios. Taylors Solo gießt sich in den Song wie flüssiges Gold aus der Schatzkammer El Dorados. Überhaupt ist er hier vollständig in den Sound integriert, was man gut daran erkennen kann, dass er irgendwann ein Motiv entwickelt, das der Rest der Mannschaft dann aufnimmt und konsequent dynamisiert. Jagger singt auch ganz großartig, weil kräftig, ohne zu übertreiben. Neben diesen offensichtlichen Höhepunkten ist mein heimlicher die Stelle so nach viereinhalb Minuten, wo Richards Gitarre gegen den Beat arbeitet und dabei mit der Orgel zu einem knappen funky Knarren zusammenschmilzt, falls es denn überhaupt möglich sein sollte, zu einem Knarren zusammenzuschmilzen. Aber wenn Helge Schneider es schafft, ein Stück Papier in zwei Teile zusammenzuknüllen, dann kann ich ja wohl auch aus Geschmolzenem ein Knarren heraushören.
05. You Gotta Move ***
Hat den Beteiligten bestimmt Spaß gemacht, so zwischen den Tourterminen ein Studio zu buchen und mal mit der ganzen Mannschaft ein bisschen Blues zu spielen und zu singen. Ist aber nicht so mein Fall. Für einen Country-Blues zu glatt, für einen urbanen Blues zu undynamisch. Ich mag auch einfach dieses Blues-Schema nicht. Oder nicht mehr. Oder schon lange nicht mehr. Und wenn doch, dann eben mit einem gewissen Etwas gespielt/produziert. Der fehlt mir hier.
06. Bitch ****
Zweitbester Rocker der Platte, hinter „Sway“ und vor „Brown Sugar“. Mick Taylor klingt zu Anfang seines Solos ein bisschen wie in den Song geworfen. Dann in der zweiten Hälfte des Solos ist er aber super und treibt richtig an. Und überhaupt fällt mir jetzt an „Bitch“ wieder auf, wie aufgeräumt und ordentlich doch „Sticky Fingers“ ist. So vieles sitzt wohlgesetzt am richtigen Ort. Jederzeit ist es möglich, Richards Riff-Gitarren zu verfolgen. Problemlos darf man Taylor lauschen, wie er da so im anderen Kanal ein paar Melodie-Licks setzt. Die Bläser sind präsent, Jagger singt klar vernehmlich. Irgendwie war das musikalisch alles viel erwachsener und abgeklärter als 7 Jahre später auf dem dem so wunderbar ruffen und knalligen Gesamtsound von „Some Girls“ oder noch später auf dem verstrubbelten, querstehenden Klops namens „Dirty Work“. Aber eben dadurch auch manchmal etwas weniger aufregend.
07. I Got The Blues ***1/2
Letzter Himmelskörper des Dreigestirns, das mit „No Expectations“ seinen Anfang nahm, mit „Love In Vain“ fortgesetzt wurde und schließlich bei „I Got The Blues“ endete. Nach wie vor ein guter Song, wenn auch nicht (mehr) ganz so gut wie seine Geschwister. Song und Umsetzung sind in die Jahre gekommen, finde ich. Klingt doch recht bluesrevival-esk. Bisschen formelhaftes Grundthema auch, aber die Bläser und besonders das schneidige Orgelsolo reißen wieder was raus. Jagger habe ich schon gefühlvoller gehört. Er drückt mir zuviel rein. Ich höre einen technisch guten Sänger. Bei Al Green z.B. höre ich nie einen technisch guten Sänger, weil Al Green diesen abstrakten Gedanken gar nicht aufkommen lässt. Über Al Green kann ich nur nachdenken und schreiben, wenn ich ihn nicht höre. Na, ich schweife ab. Zurück zum Song: Vielleicht liegen meine kleinen Probleme mit „I Got The Blues“ auch darin begründet, dass Zeilen wie „I got the blues for you“ und ähnliches über die Jahrzehnte schon so klischeesiert verwendet wurden, dass sie für mich außer dem Klischee kaum noch etwas anderes transportieren, egal wie gut der Sänger auch sein mag. Caetano Veloso hat das Problem mit dem generellen Blues-Klischee mal im Anfangsvers von „Nostalgia (That’s What Rock’n’Roll Is All About)“ schön auf den Punkt gebracht: „You sing about waking up in the morning/ But you’re never up before noon …“.
08. Sister Morphine ****1/2
Geht mir wieder so ähnlich wie bei „Wild Horses“: Der Anfang zieht sich ganz schön. Auch wenn’s hier thematisch gut passt, weil der Protagonist aus dem Drogenkoma erwacht. Ist aber insgesamt ein tolles Stück nach wie vor. Wir wissen alle, wer die Lyrics verfasst hat. Jagger singt wieder sehr gut und der Song entwickelt einen tollen Sog. Die Drums sind ebenfalls sehr gut eingesetzt.
09. Dead Flowers ****1/2
Ein sehr schöner Song, den selbst Townes Van Zandt mal gecovert hat. Ich ziehe zwar „Far Away Eyes“ momentan etwas vor, aber trotzdem ist „Dead Flowers“ eine schön fließende halb ernst gemeinte, halb amerikanisch geknödelte Country-Parodie, zu dem mir aber leider ansonsten gerade nichts Besonderes einfällt. Außer vielleicht, dass mich spätestens auf „Dead Flowers“ das Kokettieren mit Heroin, Koks und ein Leben in schlechter Gesellschaft anzunerven beginnt.
10. Moonlight Mile *****
Sehnsuchtsorte + Outroludes: Ich werde bei Tattoo You noch darauf zurückkommen. Jaggers ganz großartiges Motiv auf der Akustikgitarre. Top 5 der Stones (und auch was Jaggers Gesangsleistung betrifft). Einmalige Stimmung. Und ohne einen einzigen Ton von Keith Richards. Das Outrolude ist tatsächlich meisterhaft und kommt besonders zur Geltung, wenn man „Sticky Fingers“ von vorne bis hinten durchgehört hat und dann, während man verträumt auf der Mondmeile reitet, nochmal alles Revue passieren lässt. Ich hab halt auch Gefühle.
Fazit: ****
Sehr gute Platte, aber momentan für mich kein Meisterwerk. Denn ich finde, sie hat etwas verloren hier und jetzt Anfang Mai 2014. Zum „Meisterwerk“ gehören nämlich immer mindestens zwei: Der Hörer mit seinem wandelnden Kulturrauschen im Ohr (und weiter dahinter) und das Werk selbst, das ja ebenfalls in speziellen Zeit- und Kulturzusammenhängen entstanden ist. Und deswegen werden „Meisterwerke“ auch immer mal wieder zu „No-Meisterwerken“ degradiert, bis sie vielleicht bei günstigen Bedingungen des gerade vorherrschenden Kulturrauschens wieder – dann aber vielleicht aus ganz anderen Gründen – zu „Meisterwerken“ werden, bis sich das Kulturrauschen wiederum ändert, usw. Ein ständiger, dynamischer, auch sehr individueller Prozess, dessen Bewusstwerdung dem einen oder anderen, der eher an unumstößliche Wahrheiten in der Beurteilung von Musik glaubt, vielleicht nicht so recht ins Schema passt. Aber jeder hier weiß eigentlich, dass es diesen ständigen Wandel gibt, was sich ja auch daran festmacht, dass z.B. die Ewigkeitslisten der besten Platten sich bei jedem Hörer immer wieder ändern. Ich zum Beispiel habe Fleetwood Mac’s „Rumours“ als es herauskam, geliebt, dann wenige Jahre später fand ich es zum Knochenkotzen, wiederum einige Jahre später fand ich es großartig, wie „Rumours“ auf der Ebene tollster Popsongs das Beziehungsgewimmel der Bandmitglieder am offenen Herzen operierte. Also habe ich es aus anderen als den ursprünglichen Gründen wieder zu lieben verstanden. Und natürlich unterliegen auch Platten wie „Sticky Fingers“ einem Wandel in der Wahrnehmung.
Und deswegen ist „Sticky Fingers“ für mich momentan eben einfach eine sehr gute Stones-Platte, mit einigen sehr gelungenen Songs, einigen, die ich zu anderen Zeiten noch gelungener fand, und einigen, die ich heutzutage nicht mehr so richtig gut finde.