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Ich habe das schonmal im entsprechenden Thread geschrieben, aber ich wiederhole mich da gerne:
1) Dass auf „Never Mind The Bollocks“ dilettantische Mujsik zu hören sei, stimmt einfach nicht (wobei ich mal dahingestellt sein lasse, inwieweit da Studiomusiker mitgeholfen haben). Natürlich war das weder virtuos noch musikalisch besonders innovativ. Aber diese Musik hat definitiv die Qualitäten, die guten, aufregenden Rock’n’Roll ausmachen: Das Gefühl, dass der Kontrollverlust kurz bevorstehe und einem jeden Moment der ganze Laden um die Ohren fliegen könnte. Sowas muss man können.
2) Die Pistols als Bewahrer oder Wiederbeleber des Guten, Wahren, Einfachen, Authentischen im Rock’n’Roll zu sehen, greift entschieden zu kurz. Natürlich ging es auch gegen die Prog-Rocker. Es ging aber ebenso gegen Hippies, linke Weltverbesserer, Spießer aller Art, das „Establishment“, schlicht gegen jeden. Es war eine zynische Umarmung des Kapitalismus, weil man (soll heißen: Malcolm McLaren) begriffen hatte, dass auch die vermeintliche Gegenkultur des Rock’n’Roll nie etwas anderes anderes war als ein Teil des „Schweinesystems“, wie es von der äußersten Linken damals gerne tituliert wurde. Es gab keine Alternativen und es wurden keine Verbesserungsvorschläge gemacht. Es ging gegen Moral und Kultur an sich und insgesamt. Manche, die ein paar Brocken Nietzsche aufgeschnappt hatten, glaubten, dies als „Nihilismus“ identifizieren zu können.
Natürlich konnte das irrsinnige Momentum nicht länger als für ein paar Singles aufrecht erhalten werden. Das lag fast schon in der Natur der Sache. Trotzdem greift es wiederum zu kurz, dem Album Ausverkauf, Anbiederung an das Langweiler-System und Verstoß gegen das Singles-Ethos des Punk vorzuwerfen (so in etwa tops und otis in unserer früheren Diskussion). Weil es kein Ethos gibt. Ohne McLarens genial-zynische Vermarktungsstrategie macht das Gesamtkunstwerk Sex Pistols von Anfang an keinen (oder zumindest viel weniger) Sinn. Natürlich war „Never Mind The Bullocks“ in gewisser Weise die Vorstufe zu „Flogging A Dead Horse“. Das ist ja gerade der Witz; und es ist einer der hinterfotzigsten und besten der kapitalistischen Musikgeschichte.
Und ganz abgesehen davon enthält das Album fast ausschließlich Kracher der allerersten Kategorie, lauter potentielle Singles, bei denen das Fehlen der vier tatsächlichen, epochalen Singles gar nicht groß ins Gewicht fallen würde.
Ein Meisterwerk, das als Teil eines Gesamtkunstwerks die üblichen Kategorien weit hinter sich lässt.
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There is a crack in everything; that's how the light gets in. (Leonard Cohen)