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gypsy tail windDer war halt immer am Arbeiten…
Was ich ihn bestimmt gefragt hätte: warum hat er bei gewissen Sessions (ich vermute, sie stammen alle aus dem selben Zeitraum, mir fällt als Beispiel grad Jimmy Smiths „Six Views of the Blues“ ein, ein damals nicht erschienenes Album mit Cecil Payne) die Mikrophone der Solisten auf und abgedreht in den Stücken? Das ist deutlich hörbar, weil sich der Raumklang ändert – das Mikrophon fängt ja nicht nur (in diesem Beispiel) das Saxophon ein, die Musiker waren damals nicht getrennt, es gab bleeding in Massen und das gehört ja auch zum schönen, natürlichen Sound dieser alten Aufnahmen. Der Raum selbst ist immer auch zu hören, aber durch das öffnen und schliessen des Mundes, äh der Mikrophone, wird da manipuliert, und wie ich finde auf unsinnige Weise. Es hätte mich interessiert, zu hören, was dahinter steckte, warum Van Gelder das eine Zeit lang (oder bei gewissen Sessions) gemacht hat.
Lieber Gypsy,
Bin seit einiger Zeit Beobachter auf diesem Forum und hab jetzt endlich entschieden, mich zu registrieren. Bin sehr angetan von der Atmosphäre hier und von den netten Leuten.
Wenn ich darf, würde ich gerne deine Frage beantworten. Bin von Beruf kein Audiospezialist, interessiere mich aber sehr dafür und ich glaube, ich hab mittlerweile genug zum Thema gelesen und recherchiert, um eine halbwegs kohärente Antwort zu verfassen.
In der frühen Stereo-Ära, also von 1954 bis etwa Ende der 60er wurden die meisten Jazz-Alben, die für größere Labels eingespielt wurden, auf 3- oder 4-Spur-Maschinen aufgenommen (im Falle von Atlantic, 8-Spur). Die meisten Miles Alben für Columbia z.B. sind auf 3-Spur aufgenommen. Diese Multitracks wurden dann runtergemischt auf 2 Kanäle für Stereo und 1 Kanal für Mono, wodurch also am Ende 2 Masterbänder enstanden, die für die Pressung der Schallplatten benutzt wurden.
Bei Van Gelder war das anders. Die ganzen kleinen Independent Labels, für die er gearbeitet hat, hätten sich dieses ganze Prozedere gar nicht leisten können. RVG nahm ab 1957 direkt auf 2-Kanal auf. Dieses Stereoband wurde dann eins zu eins auf eine Stereoplatte gepresst oder die beiden Kanäle wurden 50/50 kombiniert für die Monoausgabe (er fügte beim Vinyl-Mastering auch Kompression und Equalizing hinzu). Also gab es bei RVG nur 1 Masterband und keine Multitracks.
Was man beim Downmixing im 3- oder 4-Spur-Verfahren machen kann, ist manche Kanäle leiser oder lauter zu stellen, oder zeitweilig gar komplett auszuschalten, um somit nicht nur die Balance der musikalischen Elemente zu bestimmen, sondern auch kleine Fehler und Nebengeräusche zu maskieren. Hast du dir jemals die kompletten „Kind of Blue“ Bänder angehört? Da hört man während der Stücke oft Geräusche, die man vom normalen Album nicht kennt: mal ein quietschiger Boden, ein klappernder Stuhl oder Miles‘ Dämpfer… Diese Nebengeräusche wurden durch vorsichtiges Mischen bei der offiziellen Stereo- und Monoausgabe eliminiert.
Nun konnte RVG das nicht. Er musste alles live mischen, denn jeder Fehler wäre später nicht mehr korrigierbar. Also anstatt, dass er das Risiko einging, dass manche Musiker während sie nicht gespielt haben, ungewollte Geräusche produzierten, hat er deren Mikro abgeschaltet. Und man muss sagen, dass er das ziemlich gut drauf hatte, denn in 99% aller Fälle (außer bei einigen frühen Prestige-Aufnahmen) hat er zum richtigen Zeitpunkt das Mikro auch wieder angeschaltet!
Wie du schon sagtest, führt das zu Veränderungen im Raumklang. Aber wie sehr auch Van Gelder von der Stereotechnik fasziniert war (er war einer der ersten Independents der Ostküste, der mit Stereo experimentiert hat – mit Klassik-Aufnahmen für Vox), war damals Mono immer noch die Priorität. Und solche Verschiebungen des Raumklanges spielen bei Mono keine Rolle, zumindest sind sie kaum wahrnehmbar, wenn man nichts davon weiß. Für Alfred Lion war das Mono-Produkt immer noch die „definitive“ Version – erst nachdem er 1967 aufgehört hat, zu produzieren, wurden in den U.S.A. Monopressungen allgemein abgeschafft.
Das wäre, glaub ich, die plausibelste Erklärung.
…Übrigens, der „Klang des Raumes“, den man bei Van Gelder hört, ist eine Kombination des „bleedings“ zwischen den Mikros und des starken, künstlich erzeugten, Nachhall-Effekts, den Rudy immer eingesetzt hat. Dieser „bouncige“ Effekt wurde in seinem alten Studio in Hackensack (also für alle Aufnahmen bis 1959) durch ein billiges Federhall erzeugt. Das hört man am besten auf seinen Prestige-Aufnahmen. Bei den Blue Notes ist es das gleiche Hallgerät, aber nur dezenter eingesetzt. [Manche Jimmy Smith-Aufnahmen, z.B. die ganzen Jamsessions mit vielen Solisten, wurden in einem größeren Studio in New York aufgenommen, der über einen natürlichen Raumhall verfügte. Den Unterschied zu hören, ist interessant.] Nachdem Van Gelder in sein Englewood Cliffs Studio umgezogen ist, hat er den alten Federhall durch eine Hallplatte („plate reverb“) ersetzt, was man bei allen Aufnahmen ab 1959 hört. Das interessante dabei ist, dass das Audiosignal, was von der Hallplatte zurückkam, nur ein Monosignal war, was Rudy auf beiden Kanälen gleichermaßen dazumischte. Deswegen erklingt der Nachhall immer nur aus der Mitte, auch wenn die Solisten links oder rechts im Stereofeld platziert sind.
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