Re: Die besten Blue Note Alben

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gypsy-tail-wind
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nail75Dieser Interpretation stimme ich vollkommen zu. Das ist eine extrem beschränkte Sichtweise, die den Free Jazz der 60er einseitig zum Ideal erklärt und alles andere lächerlich macht oder ignoriert. Selbstverständlich waren die 60er eine außergewöhnliche Dekade, die rasanten Wandel hervorgebracht hat, aber eine Gesellschaft kann solchen Wandel nicht dauernd durchleben, man denke an die Verwerfungen, die Radikalisierung und auch die gewalttätigen Konflikte, die diese Zeit geprägt haben. Neben allen großen künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Leistungen gibt es nämlich auch eine Kehrseite des Terrorismus und der Gewalt, die vollkommen in Vergessenheit zu geraten droht. Die Erinnerungsorte dieser Kehrseite sind wohlbekannt. Die RAF, die Roten Brigaden, der Parteitag der Demokraten in Chicago, die Ermordung von Kennedy (JFK und Robert), Martin Luther King, Malcom X, Vietnam, Altamont usw.

Und natürlich haben diese Veränderungen und diese Konflikte auch die Menschen geprägt, die nicht zufällig in dieser Zeit, die Experimente besonders weit getrieben haben. Das konnte aber natürlich nicht ewig so weitergehen. Musiker wie Hutcherson, McLean, Peacock, McCoy Tyner, Holland usw., waren keine Free Jazzer. Sie durchliefen eine Zeit, in der sie avantgardistische Musik machten, aber als die 60er (oder frühen 70er) vorbei waren, machten sie andere Musik, der man Unrecht tut, wenn man sie daran misst, was sie gemacht haben, als sie jung waren. Dieser Umstand ist diesen Leuten nur unheimlich schwer begreiflich zu machen, weil sie atemlos von einer Innovation zur nächsten hetzten und dabei nicht begriffen, dass sie sich nur noch im Kreis drehten, wie ein Hamster im seinem Laufrad. Diese Fundamentalisten der Avantgarde reden dann von Verrat und Ausverkauf und gefallen sich in ihrer eitlen Selbstgerechtigkeit. „Was ist daran innovativ?“ Nichts, ja und?

Schöner Post, ja – aber ob ich einverstanden bin weiss ich dennoch nicht. Bin ja viel zu jung um selbst in den Verdacht zu kommen, ein „Fundamentalist der Avantgarde“ zu sein, aber als Randerscheinung gab’s ja auch in der Zeit, als Hutcherson, Tyner, McLean etc schon längst wieder „back in line“ waren, durchaus noch spannende, avantgardistische Musik. Da war z.B. Miles, der seine Musik bis vor seiner Auszeit weiterentwickelt hat, da waren auch Leute v.a. aus der Chicagoer Ecke (Roscoe Mitchell, Anthony Braxton, Henry Threadgill, Muhal Richard Abrams, Leo Smith), die nach Wegen zwischen Freiheit und Komposition gesucht haben (und das teilweise musikalisch ziemlich erfolgreich). Aber diese Musik hat bis heute wenig Anschluss/Nachfolger und Anklang beim Publikum gefunden.

Ich würde zwar keineswegs ein so starkes Wort wie Verrat verwenden wollen, aber eine gewisse Enttäuschung kann ich schon nachvollziehen. Zudem denke ich, dass man das auch aus der Zeit sehen muss unter anderem Blickwinkel als den 60ern als kathartischer Dekade, wie nail das zusammenfasst (doch in dem Zusammenhang: wenn ihr mal die Möglichkeit habt, Sidney Lumets epischen „King: A Filmed Record… From Montgomery to Memphis“ zu sehen, nutzt die Chance unbedingt! Ein unglaublich eindrückliches Dokument! Da kann Spike Lee seine Siebensachen einpacken… dessen Papa war ja übrigens der Bassist Bill Lee, den man u.a. auf Alben von Frank Strozier hören kann).
Die alternative Sichtweise, die ich als fast wichtiger für ein solches Verrats- oder Enttäuschungs-Verdikt betonen will ist die, dass Jazz ja eine junge Kunstform war (ist), und sich Neuerungen eben tatsächlich mindestens alle zehn Jahre erkennen lassen… New Orleans, Chicago, Swing, Bop, Cool, Hardbop, Free… diese Dynamik bricht in den 60ern ab bzw. geht nur noch auf Nebengeleisen weiter (wie Andrew Hill oder eben die oben genannten Leute und vermehrt auch ausserhalb der USA – Willem Breuker, die Engländer zwischen McGregor und Tippett, die Italiener um Schiaffini, Trovesi, das Instabile Orchestra etc), während viele ehemalige/vorübergehende/zeitweise Exponenten der „neuen“ Musik der 60er sich eben wieder eingereiht haben.
Die Enttäuschung ist in diesem Sinne nicht bloss eine ideologische Schwäche der Avantgarde-Fundis sondern wohl die Ahnung vom Ende der Kunstform Jazz als lebendiger, relevanter kultureller Praxis, oder sowas in der Art. Das kann man jetzt für kompletten Unsinn halten, aber ich denke völlig von der Hand zu weisen ist es halt leider doch nicht. Die Musealität des Jazz – auch mit der ganzen extremen Verschulung und Professionalisierung – hat ja leider schon erheblich zugenommen in den letzten paar Dekaden.

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