Re: Was ist Pop?

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bender-rodriguez

Registriert seit: 07.09.2005

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Herr Rossi

Der entscheidende Bruch kam dann Ende der 70er. Soweit ich es sehe, wurde in der Post-Punk-Ära „Pop“ neu und positiv definiert, als musikalischer und ästethischer Gegenentwurf zum herrschenden Rock-Mainstream der 70er Jahre. Die neuen Bands und Künstler bezogen sich auf die 50er und 60er Jahre, auf elektronische Musik („Krautrock“), auf Funk, Soul, Reggae, Ska, auch auf den von den Rockfans so verachteten Disco-Sound.

Das war anfangs eine „Untergrund“-Bewegung, damit hatten zunächst nur wenige den ganz großen Erfolg, etwa Blondie oder Police, oder nur in England, wo Pop ja ohnehin zuhause ist, aber einige der Bands dieser Zeit wurden später sehr erfolgreich, etwa die Talking Heads, The Cure, Human League, Ultravox, Madness, Dexy’s Midnight Runners, z.T. auch in dem sie selbst wieder zu „Rockisten“ wurden, siehe Simple Minds oder U2. Mit MTV wurde dann 1982/83 „New Pop“ zum ganz großen kommerziellen Erfolg, aber ohne die Postpunk-Ära sind auch Bands wie ABC, Depeche Mode, Culture Club, Duran Duran, Frankie Goes To Hollywood usw. nicht zu verstehen. Und auch nicht Madonna. (Oder Prince und Michael Jackson, auch wenn die in anderen, „schwarzen“ Musiktraditionen standen.)

Das siehst nicht nur Du soweit, sondern es ist eine unumstössliche Tatsache und verbriefte Historie, daß der kreative Gegenentwurf, sowie die damit einhergehende Neuausrichtung eines Generationswechsels „Pop“ wieder dick unterstrich, anstatt ihn durchzustreichen. Vor allem die erstarrten Werte mit denen Rock/Popmusik bewertet wurde und zugleich die Anforderungen, die an den (AOR-)Rock der (End-)Siebziger gestellt wurden, hätten auf Dauer aus (fast) der ganzen Landschaft der populären Musikkultur eine vergreisende Ödnis gemacht. Die hier im Thread dargestellten Erlebnisse und (damaligen) Sichtweisen kenne ich nur zu gut aus zeitgenössischen Kommentaren und Diskussionen. So war jemand z.B. ein ganz dufter „progressiver“ Typ, weil er die Supertramp-Platten seines großen Bruders mochte, wer sich jedoch die „Fade To Grey“-7″ von Visage kaufte, war eine Art Luftikus, den man vom „Musikgeschmack“ her nicht „ernst“ nehmen durfte. Ein Kommerzheini halt. Seltsam erheiternd, daß sowohl die „progressiven“ „Rock“-Stücke wie „Breakfast In America“ oder „Dreamer“ (Supertramp), „Another Brick In The Wall Part 2″ (Pink Floyd) oder “ The Carpet Crawlers“ (Genesis) das gleiche chartstürmende (kommerzielle) Potential aufwiesen, wie die angeblich „minderwertige“ Pop- und Disco-Kommerzscheisse a la „Pop Music“ (M), „I Feel Love“ (Donna Summer) oder „Heart Of Glass“ (Blondie)…
Natürlich wurde auch schon seit Anbeginn der Pophistorie im Namen des Pop massenhaft Schrott aufgenommen, der wirklich nur auf kurzfristigen Profit hin produziert wurde. Allerdings kann man hier keinerlei nennenswerten Qualitätsunterschied zwischen den einzelnen Dekaden ausmachen.

Und daß letztendlich das eindeutige Bekenntnis hin zu Pop der => „New-Pop“-Ära auch dem damals kreativ brachliegendem Rock wieder neue Impulse gab, ist ebenso (historisch) belegbar. Es wurde ja nicht einfach „nur mal so eben“ Popmusik produziert, sondern eine neue Ästhetik und ein neuer kultureller Anspruch ging mit dieser Aufbruchstimmung einher.

Wie oben bereits beschrieben, gab es allerdings auch Rückfälle (Simple Minds ist ein sehr gutes Beispiel) zu beklagen. Und Bands wie Depeche Mode sind im Prinzip mittlerweile diese Art Poperneuerer und Popbekenner (oder wahlweise „Plastikpopper“, man erinnert sich noch…?) jener Tage, die heutzutags von so vielen duften „progressiven“ Typen als „ernstzunehmende“ Künstler geliebt werden, währenddessen neuer „Kommerz-Pop-Mist“ die Charts bevölkert…

Das Phänomen geht weiter – oder: im Westen nichts Neues…

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I mean, being a robot's great - but we don't have emotions and sometimes that makes me very sad