Re: Was ist Pop?

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herr-rossi
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Blitzkrieg BettinaIn meiner Wahrnehmung ist die Pop-Musik wie wir sie heute kennen eher ein Phänomen ab ca. der Achtziger Jahre (also so in etwa ab Madonna).

Das kommt, wie immer, darauf an, was man darunter versteht. Wie Mikko es beschrieben hat, begann sich schon Ende der 60er eine Kluft aufzutun. Auf der einen Seite der – in der Wahrnehmung der Künstler und Hörer – „ernsthafte“ und „erwachsene“ Rock und das Singer/Songwritertum (hierzulande dann auch Liedermacher), was man als irgendwie „unkommerziell“ betrachtete, auch wenn es faktisch in großen Zahlen verkauft und vor großem Publikum aufgeführt wurde. Der Gegenpol war der „Mainstream“, von dem man mutmaßte, dass er nur auf seine kommerzielle Verwertbarkeit hin produziert wurde, eingängige Lieder, die im Radio gespielt wurden und in den Singles-Charts platziert waren. Das war aus Sicht der „ernsthaften“ Musikhörer alles banal, grell, hohl, kitschig, substanzlos, affirmativ usw.

So ganz ohne Bezug zur Realität war diese Sicht sicher nicht, sie führte nur zu einem letztlich ideologischen Wertungssystem. Die kommerzielle Seite der Musikindustrie wurde ausgeblendet, soweit sie die eigenen Favoriten betraf – die machten das ja alles nur aus Liebe zur Musik und für Love, Peace & Happiness und verdienten eher ungewollt Geld, und was andere Musikrichtungen substanziell ausmachte, die nicht dem „ernsthaften Rock“-Klischee entsprachen, z.B. Glamrock oder Disco, wurde konsequent ignoriert.

Den Musikdiskurs der frühen 70er habe ich nicht bewusst miterlebt, aber dass auch manche im Nachhinein angesehene Band wie T. Rex damals als „Teenie-Mucke“ betrachtet wurde, ist hier ja schon mehrfach thematisiert worden. Ein großer Bowie-Fan hat mir glaubwürdig berichtet, dass er für seinen Lieblingskünstler damals (in den frühen 70ern) auch eher belächelt wurde. Ich weiß nicht, ob Zeitzeugen hier das bestätigen können. Kann man sich jedenfalls kaum vorstellen.

Der entscheidende Bruch kam dann Ende der 70er. Soweit ich es sehe, wurde in der Post-Punk-Ära „Pop“ neu und positiv definiert, als musikalischer und ästethischer Gegenentwurf zum herrschenden Rock-Mainstream der 70er Jahre. Die neuen Bands und Künstler bezogen sich auf die 50er und 60er Jahre, auf elektronische Musik („Krautrock“), auf Funk, Soul, Reggae, Ska, auch auf den von den Rockfans so verachteten Disco-Sound.

Das war anfangs eine „Untergrund“-Bewegung, damit hatten zunächst nur wenige den ganz großen Erfolg, etwa Blondie oder Police, oder nur in England, wo Pop ja ohnehin zuhause ist, aber einige der Bands dieser Zeit wurden später sehr erfolgreich, etwa die Talking Heads, The Cure, Human League, Ultravox, Madness, Dexy’s Midnight Runners, z.T. auch in dem sie selbst wieder zu „Rockisten“ wurden, siehe Simple Minds oder U2. Mit MTV wurde dann 1982/83 „New Pop“ zum ganz großen kommerziellen Erfolg, aber ohne die Postpunk-Ära sind auch Bands wie ABC, Depeche Mode, Culture Club, Duran Duran, Frankie Goes To Hollywood usw. nicht zu verstehen. Und auch nicht Madonna. (Oder Prince und Michael Jackson, auch wenn die in anderen, „schwarzen“ Musiktraditionen standen.)

Bis heute hat sich Pop dieses Doppelgesichtigkeit bewahrt: Es gibt einen „artifiziellen“ Pop und Pop als „Mainstream“. Die Grenzen dazwischen sind aber fließend. Pop bedeutet vor allem, auf den Mythos des „Authentischen“ zu verzichten – wer immer sich mit seiner Musik in der Öffentlichkeit präsentiert, der spielt eine Rolle, der verkörpert ein Image, das ist nie die Privatperson, wie sie „wirklich“ ist, auch wenn er das behauptet und die Fans ganz fest daran glauben. (Das gilt auch für Van The Man.;-))

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