Re: Jazzbücher

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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vorgartenich finde es sehr auffällig, dass man weder bei der baronin noch bei nellie wirklich etwas über ihre beweggründe und ihr selbstverständnis weiß und dass sie auch in solchen berichten nicht als menschen plastisch werden („embodiment of true black love“…??). die wenigsten hat es wahrscheinlich über die vorurteile und klischees hinaus interessiert. sonny rollins‘ hochpreisungen von pannonica fand ich dagegen immer schon sehr beachtenswert.

es gibt ja noch weitere faktische erfahrungen, die einfache lesarten sehr schwierig machen – dass der großteil ihrer familie von den nazis ermordet wurde (wie golden mag einem der käfig da noch erscheinen?) und dass ihr vater depressiv war und sie das leben nahm, als sie 10 war. aber auch das lässt keine erklärungen darüber zu, warum sie protagonistin einer jazzszene wurde und sich jahreland um monk gekümmert hat. mich beschleicht ein bisschen der verdacht: so richtig gefragt hat sie zu lebzeiten niemand. und das, was nellie gemacht hat, wurde eben als true black love ohnehin vorausgesetzt.

True black love, auf solchen klischeehaften Schwachsinn gehe ich gar nicht erst ein. Grauenhaft, und (nicht nur) als afro-amerikanischer Autor sollte man sich besser überlegen, was man schreibt.

Die Depressionen und den Suizid von Pannonicas Vater habe ich unterschlagen, aber mein Text war sowieso schon viel zu lang. Man kann bei Hannah R. aber auch herauslesen, dass in der Familie über vieles nicht gesprochen und unter den Tisch gekehrt wurde. Die Rothschilds waren eine verschworene Gemeinschaft, für die das Bild der heilen Welt nach außen sehr wichtig war. Nicht verwunderlich, wenn man Bankier ist und auch noch jüdisch. Es gab bei den Rothschilds auch mehr oder weniger arrangierten Heiraten unter Verwandten, was Hannah R. als eine mögliche Ursache für das häufige Auftreten für diese oder jene Krankheit auszumachen meint. Darin unterscheiden sie sich aber auch nicht vom normalen europäischen Adel.

Zu Lebzeiten hat wohl tatsächlich niemand Pannonica zu ihren Beweggründen gefragt. Hannah R. versucht nachträglich, ein Bild zu entwerfen, aber dieses Bild bleibt unscharf und voller Widersprüche. Ich frage mich, ob Pannonica selbst präzisere Auskunft hätte geben können.

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)