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In den letzten Wochen komplett gelesen, ja recht eigentlich verschlungen – hervorragendes Buch! Es bietet einen sehr guten Überblick über die Jazz-Szene von Los Angeles und – in zwei der sechzehn (Kapitel siebzehn enthält „Final Considerations“) Kapitel – San Francisco. Die Gliederung erfolgt nach den Anfängen, die der überwiegend schwarzen Central Avenue Szene gewidmet sind, nach wichtigen Musikern. Kapitel eins betrachtet die Central Avenue-Szene von den Anfängen, in Kapitel zwei besucht Charlie Parker ein erstes Mal Kalifornien (Howard McGhee war ja schon vorher mit Coleman Hawkins da, dazu einiges in Kapitel eins), in Kapitel drei dreht sich dann alles um „The Chase“, die epochale Dial-Aufnahme von Dexter Gordon und Wardell Gray.
Dann folgen die beiden San Francisco-Kapitel: vier gehört ganz Dave Brubecks frühen Jahren, in fünf geht es weiter mit Brubeck, zudem mit Cal Tjader und Vince Guaraldi. In Kapitel sechs wird der Niedergang der Central Avenue-Szene geschildert, die „Survivors“ wie Sonny Criss, Hampton Hawes und Teddy Edwards stehen im Mittelpunkt. Kapitel sieben gehört dann den Big Bands der Westküste: Roy Porter und Gerald Wilson sind die herausragenden Protagonisten, aber auch Stan Kenton findet gebührende Erwähnung, denn schliesslich war seine Innovations-Band eine wichtige Präfiguration dessen, was als „West Coast Jazz“-Stil betrachtet wird.
Ab Kapitel acht stehen dann einzelne Musiker der L.A.-Szene Pate – und der neue, der eigentliche „West Coast Jazz“ tritt in den Vordergrund. Bob Graettinger (und damit nochmal Kenton), Chet Baker, die Lighthouse All Stars von Howard Rumsey, Jimmy Giuffre, Shorty Rogers, Shelly Manne, Art Pepper. Dann folgt ein Kapitel über den „LA Hard Bop“ und schliesslich eines über Ornette Coleman und das Aufblühen einer neuen Avantgarde Ende der Fünfzigerjahre, bevor der Kreis mit den erwähnten „Final Considerations“ geschlossen wird.
Die Kapitel sind untereinander dicht verwoben, wo angebracht, erwähnt Gioia die Dinge auch schon mal doppelt – was mich überhaupt nicht störte. Denn das Konstruktionsprinzip des Buches – das trotz dieser Verdoppelungen recht gut als „Erzählung“ funktioniert und dennoch auch ein Buch ist, das man wenn gelesen zum Nachschlagen verwenden wird – bringt es mit sich, dass verschiedene Stränge nebeneinander her laufen. Und natürlich werden viele weitere Musiker recht ausführlich besprochen, von Dodo Marmarosa und Wardell Gray über Gerry Mulligan, Chico Hamilton, Bud Shank, Claude Williamson bis hin zu Eric Dolphy. Die Abschnitte finden sich in den passenden Kapiteln (Gray bei Gordon und überhaupt in den frühen Kapitel, bei Parker tauchte er ja auch auf; Mulligan bei Baker; Eric Dolphy bei Ornette …). Und das erzeugt dann eben hin und wieder Verdoppelungen. Um ein Beispiel herauszugreifen: der herausragende, leider jungverstorbene und längst vergessene Pianist Carl Perkins nahm sowohl mit Art Pepper auf (Pepper-Kapitel) wie auch mit der Combo von Curtis Counce (LA-Hardbop-Kapitel).
Um doch noch etwas zu kritisieren: ein paar Stimmungsbilder (auf der Bühne stehen X und Y und das Publikum ist gebannt und es stinkt nach Knoblauch …) fand ich ziemlich bemüht und irgendwie etwas fehl am Platz in diesem sonst fast immer besonnenen Buch. Besser die Einsprengsel aus Gioias (Schreib- und Recherchier-)Gegenwart, wie er beschreibt, was aus den einstigen Lokationen damals geworden war (leerstehende Ruinen, Parkplätze, Brachen). Überhaupt floss wohl eine unglaubliche Menge an Arbeit in das Buch, Gioia hat zahlreiche Interviews geführt und liefert immer wieder O-Ton (bzw. behauptet das zumindest) – er hätte die Stimmungsbilder so gesehen besser bei seinen Interviewpartnern abgeschöpft, anstatt sie selbst zu erdichten …
Und noch was letztes: Gioias Urteil zum Chico Hamilton Quintett ist äusserst harsch und irgendwie im ganzen Rahmen etwas überraschend. Keine Ahnung, ob er den grossen Überblick über die Musik wenigstens der originale Besetzung mit Buddy Collette und Jim Hall hatte (die Mosaic-Box war noch nicht draussen). Das ist jedenfalls der eine Punkt, wo ich dezidiert anderer Meinung bin als er, wenn es ums Urteil über die Musik geht. Was auch schlecht wegkommt – aber damit habe ich kein Problem – sind die Flöten/Oboen-Aufnahmen von Bud Shank und Bob Cooper. Sie werden – wie Hamiltons Combo – quasi als Auswuchs der negativen Eigenheiten des „West Coast Jazz“ betrachtet. Und anders als Hamiltons Musik empfinde ich sie in der ganzen Masse (Aufnahmen zunächst mit Howard Rumseys Lighthouse All Stars, dann unter Shank/Coopers gemeinsamer Leitung auf Pacific Jazz) wirklich als irgendwie überflüssig. Sowohl Shank als auch Cooper entwickelten sich schon früh weg vom unterkühlten Spiel, das sie – und auch der junge Art Pepper – in den frühen Fünfzigern bei Kenton noch pflegten (wobei Pepper schon da heraussticht). Die Flöten/Oboen-Geschichten sind teils wirklich nur Gimmick – „Blowin‘ Country“ ist ziemlich gut, aber „The Swing’s to TV“ … na ja. Und „Jazz at Cal-Tech“ zeigt doch so eindrücklich, was die beiden draufhatten (da stösst Cooper als Gast zu Shanks sowieso exzellentem Quartett mit Claude Williamson, Don Prell und Chuck Flores, das auch einige Studio-Alben und eine hervorragende, „heisse“ Live-Aufnahmen aus dem Haig hinterlässt).
Und klar, die Lektüre hängt zusammen mit den Sendungen, die ich gerade auf StoneFM präsentiere – Dienstag folgt die dritte LA-Sendung mit ausgewählter Musik aus den Jahren 1954-56.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #157: Benny Golson & Curtis Fuller – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba