Re: Eure Album-Top100

#210341  | PERMALINK

hank-williams

Registriert seit: 07.04.2004

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Hallo klienicum (und auch alle anderen, die es vielleicht interessiert)!
Hier mal eine etwas längere „Verteidigungsrede“ für meine von Dir erwähnten Lieblingsplatten. Wollte Dich gestern abend mit der Kurzantwort nicht im Eilschritt abfertigen, hatte aber nicht so viel Zeit, um weiter auszuholen. Jetzt also mal die längere Fassung:

Erst einmal das, was Du nicht kanntest

Silje Nergaard – At First Light
Das ist das zweite internationale Album der norwegischen Jazz-/Pop-Chanteusin Silje Nergaard. Das Album hat mir persönlich meinen Studieneinstieg im Frühjahr 2002 in der großen fremden Stadt ungemein versüßt. Musik wie ein Freund. Könnte Dir gefallen, wenn Du bei Lizz Wright oder Norah Jones nicht gleich einen Schreikrampf kriegst.
Anspieltipp: „Be Still My Heart“

Shawn Colvin – Cover Girl
Amerikanische Singer-/Songwriterin, in der Tradition von Suzanne Vega (die Colvin hat auch mal als Backgroundsängerin bei ebendieser angefangen – bei „Book of Dreams“ etwa kann man sie recht gut heraushören). Sehr intimes Album, fast ausschließlich zur akustischen Gitarre. Shawn covert eine Reihe ihrer Lieblingssongs, unter anderem von Dylan, Tom Waits oder auch Sting. Zum Teil kommen dabei sehr persönliche Umdeutungen heraus. Muß nicht jedem gefallen, aber ich finde es super.
Anspieltipp: „(Looking For) The Heart of Saturday Night“

Jetzt zu den „Roten“:

Michael Jackson – Off The Wall
Machen wir uns nichts vor: Jacko als Person ist eine ganz arme Wurst. Vergißt man aber mal das ganze Drumherum um seine Nase, seine (fehlende) Hautfarbe, die merkwürdigen Geschichten über bei ihm übernachtende Kinder usw. usf. und konzentriert sich nur mal auf die Musik, dann wird man wohl durchaus anerkennen können, daß das hier eine ganz blitzsaubere End-70er-Motown-Scheibe ist. Glänzend produziert von Quincy Jones, für jeden Geschmack was dabei. Musik, die gute Laune macht und zum Tanzen einlädt. Übrigens meiner Ansicht nach mit einem der perfektesten Spannungsbögen in der Song-Reihenfolge, die je eine LP hatte. Damals gingen Michaels Balladen („She’s out of my life“) wirklich noch zu Herz, während viele der späteren Tränenzieher eher Kunsthandwerk und Malen/Komponieren nach Zahlen waren (etwa „Stranger in Moscow“). Legt man mal seine vorgefaßte Meinung über Jacko ab und bringt ein gewisses Interesse an schwarzer Tanzmusik der 70er mit, dann steht dem Hörvergnügen nichts mehr im Wege.
Ist übrigens auch die Lieblingsplatte von Victoria Beckham. Aber das nur mal am Rande.
Anspieltipp: „Don’t Stop ‚Til You Get Enough“

Spice Girls – Spiceworld
Daß ich großer Spice-Girls-Fan bin seit der ersten Stunde („Wannabe“), dürfte sich vielleicht schon in gewissen Kreisen herumgesprochen haben. Dieses Album (ihr zweites) ist der Höhepunkt ihres Schaffens. Keine Ausfälle, wunderbare Perlen des Girl-Pop, von Swing („The Lady Is A Vamp“ – lange vor dem von Robbie ausgelösten Revival) bis zur Motown-Nummer („Stop“) ist hier alles dabei. P-O-P in Großbuchstaben. Wofür ich die fünf Mädels immer lieben werde.
Anspieltipp: „Stop“

Keith Jarrett – The Melody At Night, With You
Ich war immer schon ein großer Freund von alten Jazz-Standards (was sich auch in der hohen Platzierung von Tony Bennetts „Perfectly Frank“ wiederspiegelt). Hier nimmt sich Herr Jarrett mal wohltuend zurück, konzentriert sich auf das Wesentliche (die Songs) und läßt fast sämtliches Beiwerk weg. Platte für den Abend und die Nacht. Das elektrische Licht abdrehen, Kerzen anzünden und Früchtetee trinken. Zu zweit oder allein. In letzterem Fall eignet sich das Werk auch ausgezeichnet zum von Frauen geschlagenen Wunden lecken.
Anspieltipp: „I Loves You Porgy“

Diverse – Aggro Ansage Nr. 3
Neben den Spiceys gehört auch deutscher HipHop von jeher zu meinen besonderen Steckenpferden – und daß die Szene ohne Aggro Berlin (was immer man von ihnen halten mag – ich halte sehr viel von ihnen) seit zwei, drei Jahren ansonsten (kommerziell wie auch in der Berichterstattung und was das Setzen neuer Trends angeht) ziemlich mausetot wäre, sollte man auch nicht außer Acht lassen.
Die dritte Ansage vereint wunderbare Songs von allen (damaligen) Aggro-Künstlern: sidos Klassiker „Weihnachtssong“ und „Mein Block“ finden sich hier ebenso wie die letzten großen Bushido-Nummern „Kugelsicher“ und „Wie 1 Gee“. B-Tights mittlerweile indiziertes „Bums mich!“ erfreut mich ebenso jedes Mal aufs Neue wie auch FLERs erste Visitenkarte als Solo-Rapper („O Shit“). Wer wissen will, was Aggro ausmacht, der findet es hier auf diesem Album in konzentrierter Form.
Anspieltipp: „Mein Block (Beathoavenz Remix)“

Avril Lavigne – Let Go
Lassen wir mal das crazy Riot-Skater-Girl-Image außen vor und hören vorurteilsfrei in diese Platte rein, so erkennt man schnell zweierlei: Zum einen kann Fräulein Lavigne wirklich ausgezeichnet singen. Zum anderen ist das hier eine uneingeschränkt zu empfehlende Pop-Platte, was besonders in der zweiten Hälfte deutlich hervortritt.
Was P!nk und Robbie Williams zuletzt nur versprochen haben, Avril löst es auf diesem ihren Debüt ein.
Anspieltipp: „I’m With You“

Motörhead – The Best Of
Mit Mötörhead ist es wie mit Woody Allen: Bei ihnen ist beinahe ein Werk so gut wie jedes andere, und ein Schuh wird sowieso erst in der Gesamtbetrachtung daraus. Lemmy und seine wechselnden Bandmitglieder haben dem Rock’n’Roll (und tun es noch immer) etwas von dem zurückgegeben, was andere (hier im Forum sehr verehrte Bands, aber Namen will ich lieber nicht nennen) immer nur versprachen: Spaß, Gefährlichkeit und ohrenbetäubende Lautstärke. Dennoch ist das nicht alles, denn man sollte auch nicht übersehen, daß Lemmy auch ein großer Songschreiber vor dem Herrn ist. Und wer Ohren hat zu hören, der hört sogar hier und da die frühen Beatles heraus.
Anspieltipp: „Ace of Spades“

Die Antwort – 1987
Erstes Album von und mit Bernd Begemann. Der Junge aus Bad Salzuflen geht mit großen Augen und leicht zu brechendem Herz erstmals raus in die Welt und bringt uns dabei den denkbar besten deutschsprachigen Pop der Achtziger. Wer hier „Schlager!“ grölt, hat nichts, aber auch gar nichts verstanden. Wenn man so will, ist das hier die Smiths auf Deutsch, nur ohne die Morrissey so eigene (und mir durchaus sympathische) Weinerlichkeit. Tolle Platte, voller Gefühl, ohne dabei jemals ins Peinliche abzugleiten. Lang lebe das Pathos. Und jetzt sag‘ mir: Bist du mein Freund?
Anspieltipp: „Als ob du es nicht wüßtest“

Emma Bunton – A Girl Like Me
Zwar war eigentlich immer Geri Halliwell mein Lieblings-Spice-Girl, nur hat die nach ihrem Ausstieg bei der Band nie eine solch berückende Solo-CD hinbekommen, wie sie Emma Bunton (Baby Spice) hier mit ihrem Debüt abgeliefert hat. Was ich an den Spiceys immer so gemocht habe (die Catchyness der Melodien und alles, was POP sonst noch so ausmacht), findet sich auch hier wieder eins zu eins. Auch Emmas zweites Album ist sehr hörbar und geht noch mehr in Richtung Sixties-Pop. Aber dazu weiß vielleicht Herr Rossi mehr als ich zu berichten.
Anspieltipp: „What Took You So Long“

Ted Herold – Die Singles 1958-1960
Vergessen wir Bill Haley und Peter Kraus. Hier ist der Mann, der den deutschen Kids die Gefährlichkeit des Rock’n’Roll näherbrachte als sonst irgendjemand Ende der 50er. Und er war selbst noch einer von ihnen, gerade erst 17, was vielleicht zum Teil auch zur Wahrhaftigkeit seiner Darbietungen beigetragen hat. Zum Schlagerfuzzi für die Schwiegermuttis und somit zumindest ansatzweise massenkompatibel (wie sein ärgster Feind Peter Kraus), wurde er erst nach „Moonlight“. Alles, was davor war, ist allerdings ohne Frage ganz, ganz groß.
Anspieltipp: „Ich bin ein Mann“

Britney Spears – Greatest Hits: My Prerogative
Über Britney habe ich mir schon desöfteren einen Wolf geschrieben hier im Forum und bin dabei nicht immer nur auf offene Ohren gestoßen, die es allerdings auch gibt. Auf regulärer Albumlänge konnte Britney bisher noch nicht überzeugen, aber nimmt man nur mal die wirklich bedeutende Essenz ihres Schaffens (und das sind nun mal die Singles, denn eine Album-Künstlerin wird sie in diesem Leben wohl nicht mehr werden, machen wir uns da nichts vor), so findet man da gleich einen Haufen wunderbar funkelnder Perlen des modernen Pop. Zu weiteren Fragen einfach mal in die Britney-Threads reinschauen. Oder gleich Rossi fragen. ;-)
Anspieltipp: „Born To Make You Happy“

Neil Young with Crazy Horse – Everybody Knows This Is Nowhere
An dieser Platte hast Du ja nichts einzuwenden gehabt, deshalb hier mal keine langen Kommentare. Nur so viel: Wie auch die Herren Costello und Waits, so hat Onkel Neil in zunehmendem Alter in meiner Wertschätzung für sein Schaffen deutlich nachgelassen. Das liegt natürlich weniger an ihm als an mir und meinem Geschmack, der nicht in Stein gemeißelt ist und sich nun mal nach und nach verändert hat, seit ich 16 war und auf dem Young-Trip. Aber diese Platte hier hat schon viel Schönes. Dennoch ist er mit der 100 in meiner Plattensammlung noch ganz gut bedient.
Anspieltipp: „Cinnamon Girl“

Ich hoffe, ich konnte den ein oder anderen mit meinen Ausführungen wenn schon nicht überzeugen, so doch zumindest auf die ein oder andere Platte ein bißchen neugierig machen.

Cheers, Hank

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„Kreuzberg ist so hart, dass sogar die Steine sagen: Wir sind zu weich für die Strasse. So hart ist Kreuzberg.“ (Catee)