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Go1Ich denke, der Dissens ist nur scheinbar und hängt am Wörtchen „Bildung“.
Ich bin mir da nicht mehr so sicher.
Voraussetzung des Kunstgenusses ist die Fähigkeit dazu, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität, das eigene Beurteilungs- und Genussvermögen. Diese Fähigkeiten muss man erst entwickeln, und sie entwickeln sich weiter, je mehr man sich mit Kunst beschäftigt – das ist die Bildung, von der ich rede.
Wie in dem an Mikko geschriebenen Beitrag würde ich hier widersprechen, da ich der Auffassung bin, dass Du hier gewisse Eigenschaften dem Kunstgenuss vorschaltest – und ich bin mir schlichtweg nicht sicher, dass das wirklich so ist. Natürlich kann und sollte man diese Fähigkeiten entwickeln, aber ich würde sie nicht als „Voraussetzung“ bezeichnen. Ob sich der Widerspruch bei einer genaueren Diskussion auflösen würde, weiß ich nicht.
Ein Problem gibt es aber noch: Wenn man an die Bildungsvoraussetzungen des Kunstgenusses (im umfassenden Sinne verstanden) erinnert, wird einem gleich unterstellt, man würde die „Ungebildeten“ verachten. Auch das ist nicht meine Schuld. Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein Kampf aller gegen alle tobt, die Konkurrenz, in der Dünkel und Verachtung zum Alltag gehören. Dadurch wird das Wort „Bildung“ auch moralisch aufgeladen. Aber wenn man feststellt, dass viele Leute ihre Urteils- und Genussfähigkeiten nicht entwickelt haben und kaum entwickeln können – weil sie z.B. in einem geisttötenden Fabrikjob oder Bürojob gefangen sind, der ihnen die Lebenskraft raubt, und ihre Freizeit sich darauf beschränkt, ihre Arbeitskraft zu reproduzieren, damit sie am nächsten Tag wieder antanzen können (wofür die Berieselung durch den Fernseher ein passendes Mittel ist); wenn man das feststellt, dann ist das doch kein Vorwurf an die Leute. Es ist eine Kritik an der Gesellschaft, die einem Teil ihrer Mitglieder nur solche Jobs anbietet. Man verachtet nicht diejenigen, die sich nicht bilden, sondern kritisiert, dass die Gesellschaft es nicht allen gleichermaßen ermöglicht, ihre Fähigkeiten und Potenziale zu entwickeln, ihre produktiven ebenso wie ihre Genussfähigkeiten. Man kritisiert, dass die freie Entfaltung der einen, ihre Reichtümer und Genüsse, auf Kosten anderer gehen – derjenigen, die ihre Lebenskraft im Dienst an fremdem Reichtum, in entfremdeter Arbeit verbrauchen; und Verachtung empfindet man nur für diejenigen, die solche Verhältnisse rechtfertigen.
Nur um das klarzustellen: Ich habe Dir in keinem Wort unterstellt, Du würdest Ungebildete verachten.
Ich sehe die Gesellschaft nicht als Kampf aller gegen aller, der Mensch ist ebenso zu Kooperation fähig wie zur Konfrontation. Letztlich ist der Mensch ein soziales und kein asoziales Wesen, wobei die destruktiven Eigenschaften nie verschwinden und ggf. die Überhand gewinnen können. Ist alles etwas komplizierter als: „Die Gesellschaft unterteilt sich in Ausgebeutete und Ausbeuter“.
Es gibt nämlich auch viele Menschen, die gar nicht in der Lage oder nicht interessiert sind, ihre Bildung auszubauen. Es gibt Leute, die haben einen sie unterfordernden Job, kommen aber abends heim und lesen die anspruchsvollsten Bücher. Und andere kommen nach Hause und schauen RTL2. Und manchmal ist das dieselbe Person.
Nicht alle Menschen möchten gerne Dylan-Experten werden oder Sartre im Original lesen oder Picassos interpretieren. Manche spielen eben gerne Fußball (oder prügeln sich beim Fußball ;-)), züchten Tauben (früher bei Arbeitern sehr beliebt), basteln an ihren Autos oder gehen in die Kneipe.
Man kann nicht alle Menschen emanzipieren und sie zu besseren Menschen machen, wenn man nur das Bildungswesen offener gestaltet, mehr Menschen Zugang zu Bildung eröffnet usw. Man kann die Chancen verbessern, die Wahrscheinlichkeit erhöhen usw., aber man wird nie jeden oder die Mehrheit damit erreichen, weil Menschen unterschiedlich sind. Ja, man kann Menschen emanzipieren, das geht durchaus, wie wir immer wieder erleben. Aber die Menschen müssen es wollen!
MikkoErsetze Bildung durch „Beschäftigung mit“, dann passt’s.
Mein Widerspruch, dass ich die Vorschaltung von „Beschäftigung“ vor den Kunstgenuss ablehne, bleibt dann aber auch bestehen.
Zustimmung zu Deinem Beitrag #577.
Das war es von mir zu dem Thema heute, morgen wieder.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.