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Anonym
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Go1Mir ging es aber nicht um Leute, die sich gründlich mit einem Genre beschäftigen und dabei zum Schluss kommen, dass dessen Ästhetik ihrer eigenen zuwiderläuft. Mir ging es um Leute, bei denen sich ganz oberflächliche Eindrücke mit einer starken Meinung verbinden; Leute, die ihre Ignoranz noch offensiv zur Schau tragen – die z.B. meinen, sie könnten Techno aburteilen, obwohl sie nie was von den Belleville Three gehört haben und gar nicht versucht haben zu verstehen, worum es bei Techno geht. Von solchen Leuten bekommt man keine begründeten Urteile zu hören; es bleibt bei einem „Das ist scheiße, es nervt, es langweilt mich“. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, dass das vielleicht an ihnen selbst liegen könnte und nicht an der Musik.
Mit „Ignoranz“ ist nicht gemeint, dass man sich irgendwelche Arten von Musik nicht anhört – das macht jeder (niemand kann alles hören). Es geht auch nicht darum, dass man irgendetwas mögen oder nicht mögen soll/darf/muss. Es geht darum, wie man über Musik redet: ob man einfach nur rummeint oder sich erst mal um Verständnis bemüht.
Wer Kunst genießen will, muss ein künstlerisch gebildeter Mensch sein.
Ich bin überrascht, dass diese Äußerungen auf derart wütenden und teilweise höhnischen Widerspruch gestoßen sind. Es ist auch meine Privatmeinung, dass jemand, der sich intensiv mit Kunst befasst, Hör- und Seh-Erfahrungen sammelt und reflektiert, seinen Horizont weitet und so Verständnis entwickelt für Werke, die sich ihm zunächst nicht unmittelbar erschließen, mehr Genuss hat als jemand, der Dinge aburteilt, ohne sich intensiv damit befasst zu haben. Ich begreife nicht, wie der Satz „Wer Kunst genießen will, muss ein künstlerisch gebildeter Mensch sein“ derart kontrovers aufgenommen werden kann. Er drückt doch im Grunde eine Selbstverständlichkeit aus, die noch deutlicher wird, wenn man eine Variation dazu bildet:
Wer Politik verstehen will, muss ein politisch gebildeter Mensch sein.
Natürlich darf jeder zur Wahl gehen, auch wenn er den Namen der Bundeskanzlerin nicht kennt. Natürlich darf jeder sein Kreuzchen immer bei der CDU oder immer bei der SPD machen, weil das alle in der Familie schon immer so gemacht haben. So ist das in der Demokratie. Aber das heißt nicht, dass eine Meinung so gut wie die andere ist. Wenn ich ernsthaft über Politik reden will, dann wende ich mich nicht an einen Deppen, der seine festgefügte und krachledern rausproletete Meinung auf Unkenntnis stützt, sondern zum Beispiel an jemanden wie Go1.
Warum aber soll es in der Kunst so sein, dass das unbefangene und nassforsche Aus-dem-Bauch-raus-Beurteilen in „Find ich scheiße“/“Ist klasse“-Kategorien (im Forum auch „Rummeinen“ genannt) die richtige Haltung sei und intensive Beschäftigung mit der Materie arrogantes, elitäres Wichtig-Getue?
Der Zusammenhang zwischen Kunst und Bildung (im Sinne von stetiger und intensiver Auseinandersetzung mit Kunstwerken, im Sinne von Weiterentwicklung des eigenen Beurteilungs-, Verständnis und Genussvermögens) liegt für mich persönlich vollkommen unabweisbar auf der Hand als Erfahrungstatsache: Es gibt dermaßen viele Platten und Bücher, mit denen ich beim ersten Hören überhaupt nichts anfangen konnte – und die mir, als ich mich einmal hineingehört, hineingelesen, auch hineinverbissen hatte, neue Horizonte erschlossen haben. Und dabei half es natürlich, sich lesend auch Hintergründe zu solchen anfangs eher sperrig auf mich wirkenden Werken zu erschließen; oder sich mit Leuten zu unterhalten, die zu dem Zeitpunkt schon etwas weiter waren als ich und mir erklären konnten, was sie an dem betreffenden Kunstwerk so faszinierend fanden.
Um Go1’s Statement versöhnlich zu variieren: Im Lauf der Jahre ein künstlerisch einigermaßen gebildeter Mensch geworden zu sein, hat mein Kunstgenussvermögen immens gesteigert.
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