Re: Der Big Band Thread

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gypsy-tail-wind
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Gestern hab ich mal wieder die rare Chance gehabt, eine tolle Big Band live zu hören, nämlich die George Gruntz Concert Jazz Band, die nächstes Jahr ihr 40jähriges Jubiläum feiern kann (Gruntz selbst feiert heuer seinen 80.).

Zum ersten Mal trat Gruntz mit seiner grossen Band im Zürcher Jazzklub Moods auf – zuvor gab er dort schon einige Konzerte mit Franco Ambrosetti oder mit seinem Trio und auch mit einem Oktett. Gestern drängte sich die grosse Band auf der kleinen Bühne: vier Trompeter (darunter eine tolle Lead-Trompeterin namens Tanya Darby), zwei Posaunen, Tuba, fünf Saxophone, Akkordeon und die von Gruntz geleitete Rhythmusgruppe.

Die Band spielte zwei Sets, alle Musiker kamen solistisch mehrfach zum Einsatz, besonders herausragend: Gary Smulyan am Barisax, Howard Johnson an der Tuba, Neuzugang Alex Norris an der Trompete, Trompeter Jeff Stockham mit seinem Waldhorn-Feature über Horace Silvers „Nutville“, Luciano Biondini und David Bargeron (die auch zusammen in Erscheinung traten), sowie eigentlich die ganze Sax-Section, die neben Smulyan aus Chris Hunter (as,ss,fl), Sal Giorganni (as,ts,fl), Larry Schneider (ts) und dem langjährigen Mitglied des Vienna Art Orchestra (r.i.p.) Andy Scherrer (ts) bestand. Gruntz selbst gläntzte besonders im Intro seines Arrangements über „My Favorite Things“ mit einem tollen Solo, aber sein Spielwitz blitzte immer wieder auf. Neben ihm sass an der Bassgitarre Arie Volinez, ein israelischer Musiker von grosser Virtuosität und noch grösserer Musikalität. Am Schlagzeug sass François Laizeau, der eines Abends kurzfristig für Adam Nussbaum einspringen musste und seither in der Band spielt, auch er wusste zu überzeugen.

Die Trompeter waren mir im allegemeinen etwas zu virtuos und hochtönig in ihren Soli, aber Norris gelang es, eine Brücke zu schlagen zwischen Technik und Lyrik, während Darby in ihren Soli eher als eine Art gestählte (aber durchaus hippe) Lee Morgan-Erbin rüberkam. Joe Magnarelli und Jeff Stockham bliesen ebenfalls ein paar gute Soli, aber Stockham hat wie gesagt vor allem mit seinem Feature am Horn überzeugt. Posaunist René Mosele war der Lokalmatador und glänzte mit ein paar schönen Soli, aber neben Dave Bargeron ist es nicht ganz einfach… dessen Trichter wies genau in meine Richtung und ich konnte ihn immer raushören, mit einem unglaublich starken, knackigen Sound. Seine Soli waren von unglaublicher Leichtigkeit (die seine irdische Erscheinung Lügen straft), und besonders das erwähnte Duett mit Luciano Biondinis Akkordeon war eins der Highlights des Abends. Am äusseren Rand in der mittleren Reihe sass Howard Johnson mit seiner Tuba, einer der altgedienten Männer in Gruntz‘ Band. Er spielte ein tolles Soli-Intro zu „Matterhorn Matters“, einer Art Gospel/Funk-Nummer, in der Gruntz auch Motive von schweizer Volksliedern eingeflochten hat. Ganz am Ende des Konzertes spielte Johnson dann mit Gary Smulyan einen tollen Blues, in dem die Tieftöner sich nochmals präsentieren konnten – was nichts als gerecht war, denn sie bilden eine wichtige Stütze der Band.
Die Saxophonisten überzeugten wie erwähnt alle. Andy Scherrer ist der Doyen des modernen Jazz in der Schweiz, er spielte mit einer grossen Gelassenheit. Und genau das war es, was manchmal etwas fehlte. Die Soli verkamen hie und da etwas zu einer Nummern-Revue, in der jeder zeigen wollte, was er alles kann. Nur die älteren Musiker – Gruntz, Scherrer, Schneider, Bargeron, Johnson und Smulyan – konnten manchmal auch einen Schritt zurücktreten und etwas weniger virtuos aber musikalisch sinnvoller blasen. Sal Giorganni war sowohl am Tenor wie am Alt zu hören, auf beiden Instrumenten mit intensiven, verwinkelten Soli. Schneider spielte wie Scherrer nur Tenor und trug ebenfalls einige schöne Soli bei. Chris Hunter schliesslich, der Konzertmeister der Gruppe, war am Alt, am Sopran und an der Flöte mit schönen Soli zu hören.
Volinez und Laizeau drängten immer wieder an die Oberfläche der Musik, die beiden bilden ein sehr tolles Gespann, das die Band trägt aber auch treibt, das mit dem Beat spielt und für eine abwechslungsreiche, spannende Begleitung der Solisten besorgt war. Mittendrin sass Luciano Biondini mit seiner Lockenpracht und verzerrte das Gesicht zu seinem Akkordeonspiel. Ein toller Musiker, sein Temperament schien mir oft das eines Musikanten… jedenfalls ein wahres Vergnügen, ihn live zu erleben! Gerne möchte ich ihn auch mal mit Gabriele Mirabassi oder Michel Godard erleben!

Das Repertoire bestand aus Standards, Balladen (Gruntz verfolgt seit vielen Jahren eine Art Projekt, in dem er alte Standards neu arrangiert und seinen Leuten auf den Leib schneidert), ein Original von Gruntz‘ altem Freund Franco Ambrosetti (der mit Vater Flavio und Drummer Daniel Humair 1972 an der Gründung von „The Band“ beteiligt war, so hiess die Gruppe ursprünglich), Originals von Bandmitgliedern, besonders zwei (eins eine Ballade, das andere eine brasilianische Nummer) von Biondini, sowie natürlich Originale von Gruntz.

Jedenfalls ein grossartiges und intensives Erlebnis (ich sass in der ersten Reihe, direkt vor den bieden Altsaxophonen, zwischen denen hindurch Dave Bargeron blies). Big Bands muss man ja an sich eh live hören, und in einem so kleinen Rahmen wie dem Moods ist das natürlich perfekt, da kommt auch der nötige Druck auf, den diese Musik haben sollte. Bisher habe ich von den einigermassen konventionellen modernen Big Bands das Vienna Art Orchester und die Mingus Big Band gehört, erstere leider in einem falschen Rahmen und mit dem nicht ganz so tollen „A Centenary Journey“-Programm, letztere ebenfalls im Moods, was ebenso eindrücklich war.

Schönstes Haarband: Arie Volinez
Schönste schmale schwarze Krawatte: Sal Giorganni *
Schönster Mini-Ziegenbart: Gary Smulyan
Schönste Cowboy-Stiefel: Arie Volinez
Schönste Lackschuhe: Sal Giorganni
Bester „nutty professor“: Larry Schneider
Beste desinteressierte Miene: Andy Scherrer
Enthusiastischster Kommentar zu anderen Solisten: Chris Hunter, Gary Smulyan, Sal Giorganni – ex aequo
Schönster Tuba-Tanz: Howard Johnson
Beste Kommentare zum verfehlten staatlichen Kultursponsoring: George Gruntz
Schönste Glatze: Andy Scherrer
Schönste Gel-Frisur: René Mosele

:-)

*) einzige Krawatte des Abends… aber trotzdem toll!

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