Re: Visions

#1820195  | PERMALINK

nail75

Registriert seit: 16.10.2006

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waMir sind noch zwei Punkte ganz sauer aufgestoßen:

„Diese Haltung kann man nur verstehen, wenn man zwei Aspekte berücksichtigt. Zum einen ist rechtsnationales oder rechtsextremistisches Gedankengut im österreichisch-südtiroler Sprachraum weitaus akzeptierter als in Deutschland.“

Das ist nicht Dein Ernst? Woher beziehst Du Dein Wissen?

Doch klar ist das mein Ernst und eigentlich ist das auch keine sonderlich kontroverse Aussage. Ich habe mich auch schon mit Österreichern unterhalten, die das genauso sehen.

Österreich hat in den frühen 1950ern einen Deal mit den Amerikanern gemacht: Wir vergessen diese peinliche Nazi-Sache und wir einigen uns auf die offizielle Sprachreglung, dass wir das erste Opfer der Nazis waren. Dafür stehen wir im Ernstfall auf eurer Seite.

Die Folge war, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Österreich immer an der Oberfläche blieb oder das Werk einiger engagierter Individuen oder kleinerer Gruppen war. Es gab keinen Grund für die Konfrontation mit der Vergangenheit, man hatte ja diese bequeme Opferrolle, die ja auch offizielle Politik blieb. Ehemals braune Politiker wurden je nach Wunsch rot oder schwarz. Man musste sich nur und diesmal endgültig von Deutschland distanzieren.

„Anders als hierzulande blieb die Auseinandersetzung mit den von Deutschen (und Österreichern!) im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen in Österreich immer oberflächlich und machte bald einer bequemen Opferrolle Platz. Die heutigen Wahlerfolge offen rassistischer und antisemitischer Parteien wie der FPÖ künden davon.“

Die Aufarbeitung der Täterrolle hat in Österreich in der Tat nicht stattgefunden, man fühlte und fühlt sich immer noch als erstes Opfer von Nazi-Deutschland. Das ist aber kein Alleinstellungsmerkmal Österreichs.

Aber hier ging es um Österreich, nicht um eine Gesamtbetrachtung der Kollaboration mit den Nationalsozialisten.

Vichy war ja auch nicht Frankreich, sondern Nordandorra oder so
ähnlich.

Die Franzosen haben gegen die Wehrmacht nicht freiwillig verloren, aber die Österreicher haben sich mit großer Begeisterung Deutschland angeschlossen. In Frankreich gab es aktiven Widerstand gegen die deutsche Besatzung, davon kann in Österreich keine Rede sein.

Und die Erfolge der FPÖ haben aber nicht unmittelbar etwas damit zu tun.

Das sehe ich anders.

Hauptsächlicher Grund war die jahrzehntelange Vetternwirtschaft der beiden großen Volksparteien, vor allem natürlich der SPÖ.

Das wird immer behauptet, aber der eigentliche Grund ist die nicht aufbereitete Vergangenheit. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass viele junge Wähler rechten Parolen zuneigen. Die Ursache liegt eben darin, dass weder ihre Eltern noch ihre Großeltern sich ernsthaft mit der Vergangenheit ihres Landes auseinandergesetzt haben. Warum sollten sie es also tun?

Und irgendwann kam dann eine „Lichtgestalt“, die den braunen Bodensatz, die Unzufriedenen, die Benachteiligten einsammelte und ihnen die Schuldigen präsentierte: die Großkopfeten in Wien, die Juden, die „Dschuschn“.

Schon antisemitische Parolen, wie man sie in Österreich immer wieder hört, wären in der öffentlichen Debatte in Deutschland im Augenblick nicht denkbar.

Es gibt natürlich historische Situationen, in denen rechtes Gedankengut wieder an die Oberfläche gespült wird und auch in den Mainstream einsickern kann, man denke an die Wahlerfolge der Republikaner, der DVU oder der NPD. Es gibt einen kleinen, sehr aggressiven rechtsradikalen Rand der Gesellschaft, aber der findet kaum Rückhalt in der breiten Bevölkerung.

Ausnahme: einige Regionen Ostdeutschlands. Auch hier vermute ich, dass mangelnde Vergangenheitsbewältigung (die bestand in der DDR ja weitgehend aus Platitüden) und mangelndes Engagement von Politik und Gesellschaft diesen Leuten den entsprechenden Nährboden bereitet, besonders in strukturschwachen, ländlichen Gebieten.

In Deutschland unvorstellbar, da wir ja unsere Vergangenheit so gut aufgearbeitet haben?

Jedenfalls gründlicher und tiefer als die Österreicher. Diese positive Bilanz ist aber kein Grund für Selbstzufriedenheit. Das ist ein andauernder Prozess, der jede folgende Generation immer wieder zu neuer Beschäftigung zwingt. Und er ist auch nie abgeschlossen.

--

Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.