Re: Musikalisches Tagebuch

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go1
Gang of One

Registriert seit: 03.11.2004

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SokratesDas ist akustischer Vollschrott und in seiner dilettantischen Ausführung eine absolute Zumutung. (…)
Jedenfalls kommt im Ergebnis ein haarsträubendes Gebräu heraus, das ich einfach nur grässlich finde. Da ist nichts zusammen, und alles schief. Dass das keiner hört und auszusprechen wagt, sondern alle vor der Geschichte ihren Diener machen! Ich wage die Prognose, dass die Platte so heute nicht mehr erschiene, weil die A&R-Leute zusammenbrächen vor Lachen.

SokratesWeißt Du, Irrlicht, in vielen Gebieten ist es so, dass sie uns etwas einreden wollen, aber in Wahrheit stimmt es gar nicht. (Warum? Weil es jemandem nützt.) (…) Davon sollte man sich nicht einwickeln lassen, sondern sich einen eigenen Kopf und ein eigenes Urteil bewahren, auch auf die Gefahr hin, dass man Widerspruch erfährt. (…) Was mich interessieren würde ist, warum du das dann für „arrogant“ hältst? Ich unterscheide zwischen öffentlicher Wahrnehmung und eigenem Empfinden, mehr nicht.

Stichwort: „Arroganz“. Was an Deinem Statement auf manche Mitleser (mich zum Beispiel) arrogant wirkt, ist dies: Du unterstellst denen, die The Velvet Underground & Nico schätzen, sie seien Konformisten, die irgendwelchen Meinungsführern folgen, während Du Dich selbst als mutigen Selbstdenker darstellst, der endlich einmal sagt, was die anderen „nicht auszusprechen wagen“. Und Du schließt umstandslos von Dir selbst auf andere: Da Du selbst auf der Platte nur „Vollschrott“ hörst, kann ja niemand dabei ein Kunsterlebnis haben oder echte Begeisterung empfinden – die VU-Fans reden sich das ein, weil sie „einen Diener vor der Geschichte machen“ und meinen, sie müssten diese Platte gut finden. Da kann man nur sagen: Sprich für Dich selbst und nicht für andere. Plausibler ist: Die anderen sprechen das, was Du sagst, deshalb nicht aus, weil sie Deine Probleme mit diesem Album einfach nicht haben – weil sie ganz andere Dinge darin hören und dabei empfinden als Du. Du hast es versäumt, die Hypothese in Betracht zu ziehen, dass Du selbst an diesem Kunstwerk scheiterst, weil Deine Vorlieben und Maßstäbe ihm nicht angemessen sind (perfekter Gesang, handwerkliche Gediegenheit, ungebrochener Wohlklang oder was auch immer).

SokratesLou Reed mit seinem halboktavigen Genuschel ist kein Sänger, Nico noch weniger (die war bestimmt hübsch, aber wer hatte die Idee, sie singen zu lassen?? Die trifft keinen Ton, gerade wenn sie tief singt), John Cale spielt vorwiegend atonal auf seiner Viola dazwischen, und Maureen Tucker . . . kann da nicht mehr viel kaputt machen.

Weder eine große Stimme noch eine Gesangsausbildung sind Voraussetzungen für Popmusik. Lou Reed war ein cooler Hund mit eigenem Stil, der etwas zu sagen hatte und gute Songs schreiben konnte, die andere nicht geschrieben haben – und die Songs, die er geschrieben hat, werden nicht besser, wenn jemand wie Roy Orbison sie singt. John Cale hat vorgeführt, dass sich die Mittel der Avantgarde dazu nutzen lassen, einen Popsong spannender, aufregender und ausdrucksstärker zu machen. Atonalität, Lärm, Geräusche, Repetition im Zusammenhang eines Songs oder über einem Groove sind eben etwas anderes als Atonalität, Lärm, Geräusche, Repetition pur und für sich genommen. Moe Tucker hat dazu beigetragen, die Band unverwechselbar zu machen. Und Nico sorgt für ihre eigene Art von „dunkler Romantik“, wie Irrlicht sagt. Das alles ergibt ein Album, das auch heute noch all jene erfreut und inspiriert, die dafür aufgeschlossen sind.

Meine Begegnung mit diesem Album liegt schon ein paar Jährchen zurück. Erstmals „Heroin“ zu hören, war ein unglaublich intensives Erlebnis – es hat meine Vorstellung davon, was „gute Musik“ sein kann, so komplett umgewälzt wie kaum ein Stück davor oder danach.

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To Hell with Poverty