Re: Musikalisches Tagebuch

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sokrates
Bound By Beauty

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dr.music@ Sokrates
Puhuhu, bist Du brutal und sehr hart in Deinen Urteilen zu VU und Nico. Ich selber höre die wesentlich besser, auch wenn sie keine dominierende und wichtige Hauptrolle bei mir spielt (****1/2; # 601). Ich weiß gut Bescheid um seine Wirkungsgeschichte und Stellung in der Rockgeschichte und große Hochschätzung vieler. Aber zu Freudentaumeln hat sie mich auch nie gerissen. Ich selber halte sie im Gesamten auch für weitestgehend überschätzt und vor allem auch Kritkikersliebling.

Ich hoffe, ich habe Deine Gefühle nicht verletzt, Liebling. :-) Es mag hart sein, aber ich habe mich bemüht, es auch zu begründen. Dein Kommentar führt mich vor allem zu der Frage, ob Du nicht einen gewissen Widerspruch zwischen Deiner Wertung und Deinen Worten siehst. „Weitestgehend überschätzt“ und dann viereinhalb?

IrrlichtIch bin noch nichtmal der allergrößte Fan des Albums, aber neige dazu praktisch jedem Satz widersprechen zu wollen und kann kaum glauben, dass ein musikalisch geschultes Ohr sowas ohne Ironie runterschreiben kann.

Dieses „Abstraktion und Reflektion“-Argument führst du ja gerne ins Feld, auch schon bei Portishead und ich finde das in erster Linie sehr arrogant. Und dann traut sich natürlich auch wieder keiner die Wahrheit einzusehen! Es ist in Ordnung, wenn Du ein Landschaftsbild von den Vogesen abstrakten Gemälden vorziehst, aber ich sehe keinen Grund, warum Kunst, die einer Reflektion erst bedarf, schlechter sein sollte. Unmittelbare Rührung ist oft eben auch auf genau diesen Effekt gezielt – seicht, manipulativ, stets an den rechten Rädchen gedreht, aber inhaltlich eben doch leer und leblos. Das kann man reflektieren.

Die Bananenplatte ist alles andere als ein Kritikeralbum (und selbst wenn, sind Kritiker auch gute Hörer), das hast Du ja eingeräumt. Für mich ist es ein Werk, das eindrucksvoll vorführt, mit wie wenigen und dezenten Mitteln Stimmungen vermittelt werden können, ganz zarte, ganz verstörende, vor allem sehr wahrhaftige. Kein Rausch wurde so intensiv vertont wie „Heroin“, kaum ein Track ist so direkt ins Herz gehend wie „Sunday morning“, kaum eine Stimme klingt in ihrer Mischung aus Brüchtigkeit und Fühlbarkeit so aufrichtig wie die von Nico (und im Grunde auch die von Lou Reed). Ja, Schiefe, Dissonanz, vermeintliches Wirrwarr, Krach, Dreck, Songzerschlag – das kann auch herausragende Musik ausmachen. Das sind keine Virtuosen und keine begnadeten Sänger, ich wöllte dieses Album aber auch mit diesem Ansatz überhaupt nicht hören. Ich habe keine Lust auf noch eine gründlich nachbearbeitete, aalglatte, ranschmeißerische, akkurat produzierte, ganz hinreißend ebenbödig eingesungene Platte, am besten noch mit entsprechend angepasstem Coverartwork, das so edel und dezent für die Augen gestaltet ist, dass man es gleich in die Vitrine zum Goldranddackelbild stellen kann. Musik fürs Mausoleum.

Weißt Du, Irrlicht, in vielen Gebieten ist es so, dass sie uns etwas einreden wollen, aber in Wahrheit stimmt es gar nicht. (Warum? Weil es jemandem nützt.) Davon sollte man sich also befreien, wenn man kann. In der Kunstrezeption ist das zu einem größeren Teil leider sehr schwer, weil da mit relativ unbestimmten Begriffen hantiert werden kann, und oft gewinnt der, der am schönsten jubelt und die meisten Freunde hat, die den Jubel weitergeben (in der Soziologie sprechen sie vom Meinungsführerprinzip). Davon sollte man sich nicht einwickeln lassen, sondern sich einen eigenen Kopf und ein eigenes Urteil bewahren, auch auf die Gefahr hin, dass man Widerspruch erfährt. Das ist nicht nur legitim, sondern auch Ausdruck von Meinungsvielfalt. (Interessanterweise sind es gerade diejenigen, die Vielfalt progagieren, die Wert auf eine Einheitsmeinung legen.)

Was mich interessieren würde ist, warum du das dann für „arrogant“ hältst? Ich unterscheide zwischen öffentlicher Wahrnehmung und eigenem Empfinden, mehr nicht. Das ist die alte Trennung zwischen Objekt und Subjekt, und ich sehe nicht, was dagegen spricht. Außer, dass ich zu einem anderen Ergebnis als dem öffentlich gewünschten komme.

Was bei Dir übrigens überhaupt nicht funktioniert, ist diese Schwarz-Weiß-Argumentation. (Das kommt relativ oft vor, wirkt spektakulär, ist aber sachlich unsauber.) Wieso ist die Vermeidung von Dilettantismus denn gleich eine „gründlich nachbearbeitete, aalglatte, ranschmeißerische, akkurat produzierte, ganz hinreißend ebenbödig eingesungene Platte“? Darauf stehe ich auch nicht (zwangläufig oder immer.) Ich bin für Differenzierung, und die fehlt mir bei Dir.

06. März 2016

1 mal
Maroon 5 – Songs About Jane
Working Week – Fire In The Mountain
INXS – Welcome To Wherever You Are
Stevie Wonder – Innervisions
Nick Cave – Let Love In

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„Weniger, aber besser.“ D. Rams