Re: Musikalisches Tagebuch

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irrlicht
Nihil

Registriert seit: 08.07.2007

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SokratesIch sagte dann aber zu ihr, dass sich relativ unharmonische Stücke noch locker steigern lassen, und zückte die VU-Platte. Dazu kam, dass ich die 10 Jahre nicht gehört hatte; es war Zeit, das Urteil zu überprüfen.

Was soll ich sagen: Ich finde sie heute noch schlechter und habe sie auf *½ herabgestuft. Das ist akustischer Vollschrott und in seiner dilettantischen Ausführung eine absolute Zumutung. Die Sterne gibt es nur für die wenigen erträglichen Songs wie „Femme Fatale“ oder „I’ll Be Your Mirror“, und da auch nur für die Komposition (man höre zum Vergleich das deutlich bessere R.E.M.-FF-Cover). Ich verstehe, dass Andy Warhol ein cleverer Bursche war, dass mit dem Album in den 60ern Konventionen überschritten wurden (gerade thematisch: Drogen, SM) und auch, dass das Album auf viele andere Künstler Einfluss hatte. Insofern erkenne ich auch die, sagen wir, kunstgeschichtliche Bedeutung an. Aber das ist Abstraktion und Reflektion.

Meine Gefühle sagen mir etwas anderes, wenn ich die Musik höre. Lou Reed mit seinem halboktavigen Genuschel ist kein Sänger, Nico noch weniger (die war bestimmt hübsch, aber wer hatte die Idee, sie singen zu lassen?? Die trifft keinen Ton, gerade wenn sie tief singt), John Cale spielt vorwiegend atonal auf seiner Viola dazwischen, und Maureen Tucker . . . kann da nicht mehr viel kaputt machen. Jedenfalls kommt im Ergebnis ein haarsträubendes Gebräu heraus, das ich einfach nur grässlich finde. Da ist nichts zusammen, und alles schief. Dass das keiner hört und auszusprechen wagt, sondern alle vor der Geschichte ihren Diener machen! Ich wage die Prognose, dass die Platte so heute nicht mehr erschiene, weil die A&R-Leute zusammenbrächen vor Lachen. Das war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich sie aufgelegt habe. Wie geht’s Dir damit?

Ich bin noch nichtmal der allergrößte Fan des Albums, aber neige dazu praktisch jedem Satz widersprechen zu wollen und kann kaum glauben, dass ein musikalisch geschultes Ohr sowas ohne Ironie runterschreiben kann.

Dieses „Abstraktion und Reflektion“-Argument führst du ja gerne ins Feld, auch schon bei Portishead und ich finde das in erster Linie sehr arrogant. Und dann traut sich natürlich auch wieder keiner die Wahrheit einzusehen! Es ist in Ordnung, wenn Du ein Landschaftsbild von den Vogesen abstrakten Gemälden vorziehst, aber ich sehe keinen Grund, warum Kunst, die einer Reflektion erst bedarf, schlechter sein sollte. Unmittelbare Rührung ist oft eben auch auf genau diesen Effekt gezielt – seicht, manipulativ, stets an den rechten Rädchen gedreht, aber inhaltlich eben doch leer und leblos. Das kann man reflektieren.

Die Bananenplatte ist alles andere als ein Kritikeralbum (und selbst wenn, sind Kritiker auch gute Hörer), das hast Du ja eingeräumt. Für mich ist es ein Werk, das eindrucksvoll vorführt, mit wie wenigen und dezenten Mitteln Stimmungen vermittelt werden können, ganz zarte, ganz verstörende, vor allem sehr wahrhaftige. Kein Rausch wurde so intensiv vertont wie „Heroin“, kaum ein Track ist so direkt ins Herz gehend wie „Sunday morning“, kaum eine Stimme klingt in ihrer Mischung aus Brüchtigkeit und Fühlbarkeit so aufrichtig wie die von Nico (und im Grunde auch die von Lou Reed). Ja, Schiefe, Dissonanz, vermeintliches Wirrwarr, Krach, Dreck, Songzerschlag – das kann auch herausragende Musik ausmachen. Das sind keine Virtuosen und keine begnadeten Sänger, ich wöllte dieses Album aber auch mit diesem Ansatz überhaupt nicht hören. Ich habe keine Lust auf noch eine gründlich nachbearbeitete, aalglatte, ranschmeißerische, akkurat produzierte, ganz hinreißend ebenbödig eingesungene Platte, am besten noch mit entsprechend angepasstem Coverartwork, das so edel und dezent für die Augen gestaltet ist, dass man es gleich in die Vitrine zum Goldranddackelbild stellen kann. Musik fürs Mausoleum.

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Hold on Magnolia to that great highway moon