Re: Musikalisches Tagebuch

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irrlicht
Nihil

Registriert seit: 08.07.2007

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SokratesMan hätte Deinen Post so interpretieren können, dass ich mehr gut finden müsste.

Quatsch. Jeder Hörer hat ein eigenes Profil, einen Erfahrungsstand, Musik, die ihn geprägt hat – man kann bis zum letzten Atemzug dazulernen und offen bleiben, aber das heißt nicht, dass man alles gut finden muss. Wobei ich grundsätzlich sagen würde, dass ich es vorteilhaft und toll finde, sich zahlreiche Genres erschließen zu können bzw. das Interesse aufzubringen, auch bei erster Gegenwehr oder flauem Magen, weiter dran zu bleiben. Ich finde, es gibt Stilrichtungen, die sind für Personen, die geläufig mit Pop, Rock und R’n’B sozialisiert sind (mich eingeschlossen), nicht unbedingt sofort und leicht verständlich, oft schon aus den naheliegendsten Gründen: Man ist darauf nicht gepolt, hat wenig Vergleichsmöglichkeiten, die ein schnelles Erschließen erlauben, man braucht mehr Zeit, kann den Rhythmen und Melodieführungen nicht sofort folgen oder es gibt Sprachbarrieren. Ich kann an eine Free Jazz Komposition nicht wie an einen Dreiminüter von Rihanna herangehen, einen Death Metal Song höre ich hingegen anders als eine Bjornstad Pianomelodie. Grundsätzlich unterscheidet sich aber das Hörertum m.E. in der Form der eigenen Ansprüche. Ich finde es problematisch, wenn irgendwann ein Raster entsteht, nachdem Kunst bewertet nicht – der Blick liegt nicht mehr auf dem Werk und seinen Proportionen, sondern man geht mit der Strichliste durch: Schöner Gesang? Check. Viele Melodien? Check. Refrains zum Mitsummen? Check. Das hat mit Einlassen leider nicht mehr viel zu tun, sondern degradiert Kunst zur Unterhaltungsshow (mal allgemein, hat mit Deinem Posting nicht ganz so viel zu tun).

Auf dieses Album speziell bezogen: Für mich ist das ein Werk, das nur sekundär durch seine „Songs“ bzw. Songwriting als solchem besticht und berührt. Die Musik ist oft ganz klar nicht schön, nicht himmlisch, nicht einlullend, nicht melodiös, nichts, was man nebenher laufen lässt. Ich habe es heute extra nochmal gehört und bin innerlich förmlich verblutet, weil es so intensiv und verstörend traurig und gleichsam hoffnungsvoll ist. Ich finde den Kontext und die Thematik im Hinterkopf unerlässlich, wenn man hinter das Geheimnis und die Tragweite von „In the aeroplane over the sea“ kommen will. Ich habe vor einiger Zeit geschrieben, dass diese Songs für mich zum Kanon Weltkulturerbe gehören, etwas, das es in dieser Form kein zweites Mal gibt, das auf eine bestimmte Weise die Zeit fixiert und die Zeit überdauert – das behaupte ich weiterhin.

Wenn einem das alles nicht so wichtig ist, bleibt vermutlich leider aber nur ein leicht schrulliges, mitunter schief instrumentiertes Werk mit ein paar hübschen Melodien. Schade drum.

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Hold on Magnolia to that great highway moon