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SokratesNeulich im Pink-Floyd-Thread wurde einem User gnädigerweise zugestanden, dass er die neue Platte als solche beurteilen darf, ohne das Gesamtwerk zu kennen. So sollte es sein, denn – natürlich und logischerweise – löst das Hören einer Platte als solches Assoziationen und Eindrücke aus, die zu einem Gefallen oder Ablehnung (oder etwas dazwischen) führen.
Ich bezog mich oben aber auf Wissenschaft und Journalismus. Und die setzt ein Mindestmaß von Wissen über den Kontext voraus. Klar, gerade als Journalist kann man unmöglich alles kennen (allein der Anspruch ist Irrsinn), als Privatperson kann ich mir hingegen viel mehr leisten, auch Ignoranz – dann wird es nur nervig, wenn ich als Ignorant andere belehren will, das endet dann wie im TER-Thread.
Vielleicht wechseln wir mal von dem naziverdacht-behafteten, bedeutungsschwangeren Wagner zu so etwas simplem wie Spinat oder Blumenkohl
Ungern, denn das Wagner-Beispiel war ja kein Zufall. Nehmen wir an, ein Orchester von komplett Kontextahnungslosen wäre entschlossen, den Ring in jedem Land der Welt aufzuführen. Bei Buchstaben „I“ kommen sie irgendwann nach Israel und stellen fest, dass sich das überraschend schwierig gestaltet, weil die Israelis nicht nur über die Musik reden, sondern über Wagner und seine Rolle in Nazi-Deutschland. Wir reden eben von kulturellen Werken und daher können wir nicht einfach sagen: Wir blenden die Rezeption mal aus.
Aber selbst wenn ich deinem Beispiel folge: So einfach ist das nicht, denn sogar bei Essen gibt es einen kulturellen Kontext: Wie bereite ich den Spinat zu? Welche Sorte ist es? Wie wurde er angebaut? Von wem habe ich ihn erworben? Welche Zwischenschritte sind zur Verarbeitung nötig? Die Erklärung „schmeckt“ oder „schmeckt nicht“ mag beim Verzehr von Relevanz sein, aber sie besitzt gerade keine intersubjektive Überprüfbarkeit. Das ist ein Werturteil mit einer sehr geringen Bedeutung, weil es nicht nachvollzogen werden kann.
Vielleicht habe ich mich unklar ausgedrückt, aber intersubjektiv vergleichbare Fakten sind an keinen Kontext gebunden, sondern pure Empirie, und das ist gerade das Gute daran: Es ist das, was an deine Ohren dringt. Konkret (nur Beispiele): Ist die Gitarre verzerrt oder klar? Ist das Lied langsam oder schnell? Spielt ein Schlagzeug oder eine Drummachine? Das lässt sich ohne jeden Kontext präzise ermitteln. Es heißt Beobachtung und ist in Naturwissenschaften Grundlage für den Erkenntnisgewinn.
Bei den Ohren sind wir aber wieder bei der Wahrnehmung und Wahrnehmung ist nie objektiv. Wir hören alle unterschiedlich. Jemand empfindet eine Gitarre als „klar“ und meint damit „wunderbar klar“, der zweite meint „ekelhaft klar“. Wenn wir die beiden zusammenführen, können sie sich darauf einigen, dass sie die Gitarre als „klar“ empfinden, aber was ist damit gewonnen? Stell dir einen Geschichtsbegeisterten vor, der „die Daten der Weltgeschichte“ auswendig lernen will. Er lernt: 1776 – Amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Aber wer hat sie geschrieben? Warum? Was sollte damit erreicht werden? Das lernt er nicht. Wie viel Bedeutung besitzt also dieses Wissen? Und ich beharre darauf, dass viele „Fakten“ kontextgebunden sind. Nimm die Drum Machine: Die kann man nur verwenden, wenn sie existiert! Die Beatles konnten keine Drummachine verwenden. Das ist banal, verdeutlich aber, dass selbst „harte Fakten“ einen Kontext besitzen.
In Sozialwissenschaften oder auch unter Musikschreibern wird es nicht geschätzt, weil Beobachtungen binden und man dann nicht mehr wild irgendwas behaupten kann und vielleicht sogar Deutungshoheit verliert. Auch hier gilt: Cui bono. Und natürlich ist es so, dass manche nicht in der Lage sind, korrekt zu beobachten, weil sie die Erfahrung nicht haben, nicht ausgebildet sind oder schlicht unmusikalisch – zugegegen alles Handicaps, die zu Mängeln in der Beobachtung führen. Aber deswegen kein grundsätzliches Argument gegen diese.
Da sind wir bei dem, was ich oben geschrieben habe: Jeder hört anders, jeder hat eine andere Vorbildung, eine andere Herangehensweise und so weiter. Aber es gibt auch einen kollektiven Schatz an Interpretationen, die nennen wir Rezeption und in dieser Rezeption, der Gesamtheit aller individuellen Interpretationen, ist aus meiner Sicht so viel Bedeutung enthalten, dass man nicht sagen kann: „Ich mache mich davon frei“. Wir sind Menschen, wir sind soziale Wesen, wir leben im und durch den Austausch mit anderen. Ich kann das ablehnen, es bestreiten und was auch immer, aber ich kann mich davon nicht befreien. Sven Regener hat darüber ein Lied geschrieben. Es heißt Weißes Papier.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.