Startseite › Foren › Fave Raves: Die definitiven Listen › My Playlist › Musikalisches Tagebuch › Re: Musikalisches Tagebuch
nail75Entschuldigung, aber das kann ich unmöglich so stehenlassen. Der Kontext eines Kunstwerks, eines Artefakts oder eines Gegenstands ist natürlich stets zentral zum Verständnis seiner Natur. Die Rezeption eines Werks ist vom Werk selbst ab Erscheinen nicht zu trennen weder in der Wissenschaft noch im Journalismus. Man kann Wagner nicht von der Wagner-Rezeption trennen, indem man nur „die Musik an sich“ betrachtet, das ist unmöglich.
Neulich im Pink-Floyd-Thread wurde einem User gnädigerweise zugestanden, dass er die neue Platte als solche beurteilen darf, ohne das Gesamtwerk zu kennen. So sollte es sein, denn – natürlich und logischerweise – löst das Hören einer Platte als solches Assoziationen und Eindrücke aus, die zu einem Gefallen oder Ablehnung (oder etwas dazwischen) führen.
Vielleicht wechseln wir mal von dem naziverdacht-behafteten, bedeutungsschwangeren Wagner zu so etwas simplem wie Spinat oder Blumenkohl: Wenn ich Spinat oder Blumenkohl esse, übermitteln mir meine Geschmacksknospen einen Eindruck, und dann entscheide ich, ob ich es lecker oder nicht finde, und dazu muss ich NICHTS über Blumenkohl oder Spinat wissen.
nail75Ich bestreite außerdem, dass Musik und Kunst allgemein unter Berufung auf „intersubjektiv vergleichbare Fakten“ analysiert werden können. Erstens sind viele der „intersubjektiv vergleichbare Fakten“ kontextgebunden: „Wer hat was wann warum mit welchen Mitteln für wen erschaffen?“ Zweitens ist die Hörwahrnehmung stets eine Wahrnehmung und daher an sich schon immer Interpretation. Es gibt keine Kunst ohne Interpretation – Interaktion und Interpretation ist ein wesentlicher Bestandteil von Kunst.
Vielleicht habe ich mich unklar ausgedrückt, aber intersubjektiv vergleichbare Fakten sind an keinen Kontext gebunden, sondern pure Empirie, und das ist gerade das Gute daran: Es ist das, was an deine Ohren dringt. Konkret (nur Beispiele): Ist die Gitarre verzerrt oder klar? Ist das Lied langsam oder schnell? Spielt ein Schlagzeug oder eine Drummachine? Das lässt sich ohne jeden Kontext präzise ermitteln. Es heißt Beobachtung und ist in Naturwissenschaften Grundlage für den Erkenntnisgewinn.
In Sozialwissenschaften oder auch unter Musikschreibern wird es nicht geschätzt, weil Beobachtungen binden und man dann nicht mehr wild irgendwas behaupten kann und vielleicht sogar Deutungshoheit verliert. Auch hier gilt: Cui bono. Und natürlich ist es so, dass manche nicht in der Lage sind, korrekt zu beobachten, weil sie die Erfahrung nicht haben, nicht ausgebildet sind oder schlicht unmusikalisch – zugegegen alles Handicaps, die zu Mängeln in der Beobachtung führen. Aber deswegen kein grundsätzliches Argument gegen diese.
--
„Weniger, aber besser.“ D. Rams