Re: Charles Mingus

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gypsy-tail-wind
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IrrlichtJa. Das ist gerade das, was mich bislang an Mingus auch derart fasziniert. Der Mann schien sich offensichtlich um Genregrenzen zu keiner Zeit zu kümmern, was seiner Music (als Jazz wollte er es angeblich ja nicht verstanden wissen, jedenfalls nicht alleinig) eine ganz grandiose Vielseitigkeit verleiht. Ganz besonders gerne mag ich auch, dass Mingus sich die Freiheit nimmt, eben nicht nur der Mann am Bass zu sein, sondern munter die Band durch Rufe antreibt – ich mag mir etwa „E’s flat Ah’s flat too“ gar nicht ohne seine shouts vorstellen. Ich weiß natürlich nicht, wie üblich so etwas 59′ war, finde aber, dass das seiner Musik nochmal mehr Biss und Temperament einatmet. Nachdem, was ich bisher gelesen habe, scheint Mingus aber auch sonst ein Chamäleon gewesen zu sein, selbst was die Optik betrifft.

Nunja, die alte Leier mit dem „Jazz“ … ist schon ein Thema, da das ja keine Selbstbezeichung war sondern eine von aussen aufgedrückte – und irgendwie wurde der Begriff wie es scheint von denen, die sich darüber Gedanken machten, auch nicht einverleibt.

Das mit den shouts ist eher eine ältere Sache – bei Earl Hines zum Beispiel muss die Band öfter mal ihrem Leader huldigen … vokales „Antreiben“ gibt es im älteren öfter mal zu hören, ohne dass ich jetzt allerdings gleich Beispiele aufzählen könnte. Das ist eher etwas, denke ich, das der Bebop und der Cool – und die damalige urbane Hipness (die heutigen Hipster sind ja eher möchtegern-nicht-urban) und Härte der Fünfziger – dem Jazz ausgetrieben haben. Lebenfreude, wie sie zum Beispiel in Clark Terry Musik zum Vorschein kommt, war damals – und ist heute noch – vielen Jazzhörern suspekt, dünkt mich, erst recht wenn sie ungebrochen daherkommt. Bei Mingus ist sie natürlich nicht ungebrochen, ganz im Gegenteil, die Musik macht wohl, wenn man mal kurz küchenpsychologisch daherschwafeln darft, die Vielschichtigkeit der Persönlichkeit des Mannes deutlich.

Da ist auch der erwähnte Punkt interessant, dass man die Stücke kaum Covern kann (oder damit eben stets irgendwie scheitert). Mingus ist quasi ein instant composer, die Musik hat auch im Jazz sehr ungewöhnliche Spontaneität. Vieles hat Mingus ja gar nie notiert, wenn er neue Stücke einstudierte, summte oder sang er den Musikern ihre Linien vor, die sie dann nachzuspielen hatten (James Brown hat später ähnlich gearbeitet, bloss hat der wohl eher gegrunzt und öfter Beats als wirkliche Melodien „erfunden“).

Zu Deinem Prog-Vergleich kann ich übrigens nicht wirklich etwas sagen, da ich Prog nur sehr am Rande kenne … aber Prog ist ohne Jazz-Rock (und ergo ohne Jazz) soweit ich es verstehe sowieso undenkbar. Allerdings glaube ich doch eher, dass Mingus‘ Interesse eher in Richtung „ernster“ Musik ging – auch das eine Parallele zu Duke Ellington, der schon in der 78er-Ära mehrteilige Stücke schrieb und sich immer wieder an Suiten versuchte (darunter auch Bearbeitungen Griegs und Tschaikowskis). Mingus arbeitete in den Sechzigern auch anderswo mit grösseren Formen, etwa in „Meditations on Integration“, das auf „Mingus at Monterey“ zu hören ist oder auch auf dem Album „Music Written for Monterey 1965 – Not Heard… Played in its Entirety, at UCLA“, die er beide im Eigenverlag herausbrachte (das erste ist Teil der – sehr zu empfehlenden – Mosaic-Box, die hier schon Thema war, das letztere gibt’s auf einem Sue Mingus-Label als Doppel-CD). Schon in den Vierzigern gab’s Versuche Mingus‘, ambitioniertere Musik zu komponieren, für grosse Ensembles (nachhören kann man die faszinierenden Anfänge auf der grossartig dokumentierten und äusserst spannenden Uptown-CD „Charles ‚Baron‘ Mingus – West Coast 1945-49“ – von der auch lausige europäische PD-Rip-Offs erschienen sind, Achtung!) und auf „Pre-Bird“ ist wohl die Summe dieser Versuche zu hören, „Half-Mast Inhibition“, ein achtminütiges Stück. Diverse Experimente gab es in den frühen Fünfzigern, als Mingus für sein eigenes Label Debut unzählige Aufnahmen machte (gesammelt auf einer teuren 12CD-Box, diverse Sachen daraus sind aber auch einzeln erschienen, wenigstens vier Volumes von Mingus – die Box umfässt auch Sideman-Auftritte, etwa die Aufnahmen aus der Massey Hall mit Parker, Gillespie, Powell und Roach oder das Debut-Album von Paul Bley). Aber all das will nicht heissen, dass es nicht möglicherweise strukturelle oder formale Parallelen zwischen der Musik von Mingus und derjenigen irgendwelcher Prog-Rocker gibt.

IrrlichtUnd was die „Penguin guide to Jazz“-Ausgaben betrifft: Vielleicht ist das generell eher ein großes Nachschlagewerk, das man sowieso nicht in einem Zug durchsichtet? Hochinteressiert bin ich durchaus, aber momentan liegt das finanziell sowieso etwas außer Reichweite. Danke dennoch für die Empfehlung.

Klar, das ist ein Ding zum Stöbern, Schmökern, zum sich drüber aufregen … aber doch sehr hilfreich. Ich habe fast täglich eins davon in den Händen. Für mein grebrauchtes Exemplar der dritten Ausgabe habe ich nur ein paar € bezahlt – aber ich würde da auf keinen Fall ein Bibliotheks-Exemplar oder sowas nehmen (ich denke ich hatte da etwas Glück).

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