Re: Charles Mingus

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gypsy-tail-wind
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Hab grad Pithecantropus Erectus wiedergehört. Sehr tolles Album!

Am besten gefällt mir neben Mingus selbst wohl J.R. Monterose mit seinem kantigen Spiel, aber auch Jackie McLean hat einige sehr schöne Momente. Mal Waldron fällt wenig auf und Willie Jones macht seinen Job ganz gut, jedenfalls bedeutend besser als auf der Monk Session etwas mehr als zwei Jahre davor… er hatte ja wohl in der Zwischenzeit mit Mingus wohl einiges an Routine gewonnen und die Musik war auch viel strukturierter als die offene blowing Atmosphäre mit Monk und Rollins.

redbeans und ich haben uns darüber schon mal kurz in PNs unterhalten: möglicherweise gilt „Pithecantropus Erectus“ als das erste zentrale Album in Mingus‘ Werk, weil es das erste war, das klar als Album konzipiert wurde? Musikalisch ist es zwar sehr, sehr gut, aber es ist keineswegs so, dass davor nichts gutes entstanden wäre. Einige der Debut-Sessions, die Sachen mit Thad Jones und John La Porta auf Period, die Bohemia-Aufnahmen… aber nichts davon wurde in Form eines wirklich geplanten und gelungenen Albums veröffentlicht, manches waren Live-Mitschnitte, anderes eher Workshop-Dokumente (wie Mingus sie ja später auch wieder machen sollte, man könnte wohl auch sein „Mingus Presents Mingus“ so betrachten, allerdings ist die Musik dort einfach so verdammt gut, dass es völlig egal ist, ob die Session als gelungenes Album veröffentlicht wurde oder ob’s halt einfach die vier Stücke waren, die sie damals spielten während Bob d’Orleans – was für eine Name! – das Tape am laufen hatte… es gab ja noch ein fünftes Stück an der Session, „Stormy Weather“, das für mich zu den absoluten Höhepunkten in Eric Dolphys Schaffen gehört).

Jetzt bin ich bald auch mit der Session von The Clown (und der Hälfte von Tonight at Noon) durch – Dannie Richmond ist da der zentrale Neuzugang, aber auch Jimmy Knepper und Shafi Hadi wissen zu überzeugen. Mingus selbst spielt ebenfalls noch überzeugender. Manche seiner Markenzeichen treten immer deutlicher zutage, überragend ist, wie er in „Tonight at Noon“ die Band steuert und vom Bass aus treibt, ebenso, wie er in „Haitian Fight Song“ eine der mitreissendsten Einspielungen seiner ganzen Karriere antreibt. Wunderschön ist die Ballade „Reincarnation of a Love Bird“ (mit singendem Parker-inspirierten Alt von Hadi, der auf „The Clown“ auch seinen wunderschönen Sound am Tenor zeigt), und auch „Tonight at Noon“ gehört zu den klassischen Mingus-Nummern. Das Highlight bleibt aber der letzte Take der Session, „Haitian Fight Song“, wie Mingus seinen Bass im Intro erst fein angedeutet Schnarren lässt, dann nach fast einer Minute mit dem Bass-Lick beginnt, Richmond erst frei ausschmückt, dann den Beat trommelt, wie Knepper sich einschleicht, dann Hadi und Legge dazustossen… und die Musik schon nach wenigen Takten kocht – das ist Mingus! Mingus ist auch, wie für Kneppers Solo augenblicklich eine lyrische Stimmung geschafft wird, wie später das Tempo angezogen wird, dannn die rhythmisierte Passage… und dann wieder der Donner von Richmonds Drums.

Nachdem ich die beiden Alben/Sessions wiedergehört habe, tendiere ich dazu rebeans‘ (auch gestern in PNs geäusserter) Meinung beizupflichten, dass mit dem Jahr 1957 dann die ganz grosse Zeit von Mingus anbricht. Mingus Three im Trio mit Hampton Hawes (und seinem Sekundanten für fast den ganzen Rest seines Schaffens, Drummer Dannie Richmond) ist nochmal ein eher verhaltenes Album, auf dem aber „Summertime“ in einer der heisstesten Verionen überhaupt zu hören ist. Hawes hatte seine beste Zeit wohl 1957 bereits vorbei, sein Spiel war nicht mehr von dieser unglaublichen Frische, die es früher auszeichnete, aber er weiss auch auf den Blues-Nummern zu überzeugen, die Mingus viel Raum geben und ganz entscheidend von seinem riesigen Ton geprägt werden.

Mit East Coasting und Tijuana Moods (das erst 1962 veröffentlicht wurde) beginnt dann die beste Zeit von Mingus, die zunächst bis zu den Candid-Sessions von 1960/61 andauern sollte. Danach folgt ein kleiner Knicks, 1963 geht’s dann aber mit den drei Impulse Alben und 1964 mit dem Rückkehrer Eric Dolphy weiter. Eigenlich sind wir da allerdings schon mitten in den sehr wechselhaften Jahren, in denen Mingus mal grossartige Musik machte, mal von der Bildfläche verschwunden schien. Das beginnt ja schon nach den Candid-Aufnahmen, als noch sein Piano-Blues-Album Oh Yeah folgte, Atlantic reichte zudem noch Tonight at Noon nach, aber dann gab’s bis zu den Impulse-Alben ausser dem Dokument aus der Town Hall und dem Summit mit Ellington und Roach auf Money Jungle nichts mehr. Nach der Rückkkehr aus Europa (Dolphy blieb dort und verstarb kurz darauf, Trompeter Johnny Coles war schon im Konzert vom 17. April 1964 in Paris mittendrin zusammengebrochen) nahm Mingus mit verschiedenen Gruppen auf, meist live und für sein eigenes Label, Mingus at Monterey (1964) und Music Written for Monterey 1965 – Not Heard… Played in Its Entirety at UCLA (1965) waren so etwas wie ein letztes Aufbäumen, mit gemischen Resultaten aber voller Kreativität und mit unglaublichen und wunderbaren Momenten… danach verschwand Mingus für einige Jahre völlig von der Bildfläche.

Es mag ein Mythos sein, an dem ein Korn Wahrheit ist (wie jener des nach dem Krieg komplett gebrochenen Lester Young oder des nach den Elektroschocks nur noch halb so guten Bud Powell), dass Mingus nach dem Comeback nie mehr die Höhen erreicht hat, die er in den 50ern und 60ern erklomm. Allerdings möchte ich die späteren Aufnahmen nicht missen, die für Atlantic und Columbia besonders, aber auch jene nicht, die Mingus mit Bobby Jones, Eddie Preston und dem damals neben Richmond treuesten Gefährten Charles McPherson 1970 in Paris fürs America Label eingespielt hat.

Jedenfalls bleibt Mingus für meine persönliche Welt einer der fünf, sechs zentralen Eckpfeiler, einer, der sein ganz eigenes und unendlich reiches musikalisches Unversum geschaffen hat.

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