Antwort auf: Das Piano-Trio im Jazz

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Herbie Nichols Trio | Nachdem ich bei Powell und Monk war – aber noch nicht bei Hope – auch mal noch Herbie Nichols … für die Umfrage ist das Album gesetzt, als Album wie auch als Platzhalter für die ganzen Nichols-Aufnahmen für Blue Note und Bethlehem. Fünf Sessions machte Nichols für Blue Note zwischen Mai 1955 und April 1956 (6. & 13. Mai, 1. & 7. August 1955 sowie 19. April 1956), da hat er viele (aber längst nicht alles!) seiner Kompositionen eingespielt (31 Stücke in 48 Takes, wenn ich richtig gezählt habe – ein Stück gibt es aus zwei Sessions mit zwei Line-Ups, also genau genommen 16 Alternate Takes und eine Alternate Version). Al McKibbon ist bei den ersten vier Sessions am Bass zu hören, Teddy Kotick übernimmt für die letzte, während am Schlagzeug Art Blakey die ersten zwei, Max Roach die drei folgenden bestritt. Die einzige 12″-LP (nach zwei 10″-Alben mit dem Titel „The Prophetic Herbie Nichols“ – parallel zum „Amazing Bud Powell“, dem „Genius of Modern Music“ Monk, dem „Incredible Jimmy Smith“ …) ist zur Hälfte mit Stücken vom August 1955 (McKibbon/Roach) und zur Hälfte mit Stücken vom April 1956 (Kotick/Roach) bestückt.

Ich finde das tatsächlich immer wieder phänomenale Musik mit einer eigenen Rhythmik, einer präganten Melodik, einem tollen Flow … die Rolle der Rhythmusgruppe(n) ist auch recht spannend, Blakey greift viel stärker ein als bei Monk, sein explosives Spiel ist bei Blue Note immer willkommen, da ist keine Zurückhaltung angesagt. McKibbon spielt überaus ansprechenden Walking Bass, der mit dem harmonisch ungewöhnlichen Material höchst gekonnt umspringt – der Bass ist also auch für sich durchaus interessant, und er hat zudem den Punch, die Wucht der alten Bassisten (das geht ja noch weiter als bloss zu Walter Page zurück, aber für den 4-to-the-Bar-Stil ist die All American Rhythm Section von Count Basie sicher die erste und wichtigste Referenz). Nichols nimmt sich mit einer Selbstverständlichkeit Freiräume, kennt sich in seinen teils ungewöhnlich konstruierten Stücken (eine Parallel zu Monk) natürlich blind aus.

Beispiele? Das tut am Ende für den Genuss der Musik nicht viel zur Sache, die ungewöhnlichen Strukturen erahnt man beim Hören ständig, wie sie genau funktionieren ist nur für die, die sie spielen, wirklich relevant. Aber gut, Kimbrough/Allisons schlüsseln das in ihrem Text oft auf: „The Gig“, der Opener der Platte, ist das komplizierteste Stück der ganzen Aufnahmen und kommt in einer 67taktigen ABABCABDE-Form daher. E ist ein zusätzliches 8taktiges Drum-Break (also eigentlich 75 Takte). Die A-Teile sind dabei jeweils 9 Takte lang und „full of fits and starts“ (Kimbrough/Allison), die B-, C- und D-Teile deren 8. In den B-Teilen ist der Flow leichter, der C-Teil besteht aus absteigenden Terzen. Danach wird AB wiederholt, d.h. im grossen ganzen ist das so ähnlich wie eine übliche AABA-Form (zweimal AB, dann C als „Bridge“ und nochmal AB), auf die dann mit einer Überleitung (D) das Drum-Break (E) folgt. Oder „Terpsichore“, der griechischen Göttin des Tanzes gewidmet: eigentlich recht konventionell mit ABBA plus Coda und Drum-Break, aber der letzte A-Teil dauert halt nur sieben Takte (die anderen drei Teile davor die üblichen acht) und mit der jeweils viertaktigen Coda und Drum-Break bleibt das unregelmässig. Die einzige Fremdkomposition der ganzen Sessions ist „Mine“ von George & Ira Gershwin – „the wonderful [… ]tune from the musical revue ‚Of Thee I Sing.‘ It is the sort of a tune I wish I had written“ (Nichols in seinen Liner Notes zur 12″-Platte) – dass das Gershwins Stück ist, merkt man also definitiv nur, wenn man die Melodie im Ohr hat.

Viele Titel spielen auf Orte und Leute an, die damals für Nichols wichtig waren, so „Hangover Triangle“ auf den Miniatur-Park namens Hanover Square („no more than an open triangle formed by converging streets“ schreibt Nichols in seinen Notes zu BLP 1519), wo er auf einer Bank sitzend einige der Stücke schrieb – und natürlich spielt der Titel auf den übermässigen Alkoholkonsum manch anderer an, die sich dort aufgehalten haben: „Everyone around me seemed determined to have a ball into the night. Too many drank too deeply of the revelry, resulting in a lot of comical antics which, at least, inspired a very funny title.“ – Diese Mischung aus Komik und einer eher traurigen Grundstimmung durchzieht die Musik. McKibbon und auch Kotick geben am Bass eine dunkle Grundierung, die auch Blakey und Roach sowieso nicht aufhellen. Musik mit einem Flow, einer Bestimmtheit, die alle Hindernisse übersteigt … und Musik, die sich vielleicht zu der seiner Zeitgenossen verhält wie die Filme von Buster Keaton zu denen von Harold Lloyd oder Charlie Chaplin. Ein Hauch Tragik, so bilde ich mir ein, durchzieht diese Stücke auch, wenn man von Nichols‘ Geschichte überhaupt nichts weiss.

Ob so etwas anderswo als bei Blue Note überhaupt möglich gewesen wäre, wage ich schwer zu bezweifeln – die besondere Beziehung von Lion/Wolff zum Klavier schlug sich ja in zahlreichen grossartigen und wichtigen Serien von Alben nieder: Monk, Powell, Silver, Hancock, Hill, aber auch Parlan oder die Three Sounds (hatten wir hier im Thread noch nicht, oder? Les McCann ebensowenig? wo wir schon bei Ramsey Lewis waren, gehören die auch mal genannt), oder in den frühen Jahren auch vereinzelte Sessions/Platten mit Elmo Hope (zwei), George Wallington, Kenny Drew oder Wynton Kelly (je eine – die von Wallington mit einer grösseren Combo, drum hier off topic, aber ein Highlight im 10″-Only-Teil des Labelkatalogs).

Die Veröffentlichungsgeschichte in Kürze: BLP 5068 und BLP 5069 sind die 10″-Alben, die im Juli bzw. September 1955 erschienen, BLP 1519 die 12″ oben, vom August 1956. Geplant waren stattdessen eigentlich drei weitere Volumen von „The Prophetic“ im 10″-Format, doch aus dem Material wurde die 12″-LP zusammengestellt.
1975 erschien die Doppel-LP „The Third World“ in der Brown Bag Twofer-Reihe mit allen 22 Master Takes von den drei ursprünglichen Alben. 1983 folgten auf einem japanischen 3-LP-Set noch zwei Takes, bevor Mosaic 1987 die ganzen Aufnahmen auf fünf LPs bündelte, wovon 1997 bei Blue Note eine 3-CD-Ausgabe erschien – mit neuen Liner Notes von Frank Kimbrough und Ben Allison, deren Herbie Nichols Project auf zwei CDs weitere Stücke, die Nichols selbst nie einspielen konnte und in grösserer Besetzung mit Bläsern, wie sie Nichols sich vergeblich gewünscht hatte, präsentierte.
Dazwischen gab es in Japan 1996 eine CD namens „The Herbie Nichols Trio Vol. 2″ (TOCJ-1608), die als Gegenstück zum 12“-Album mit weiterem Material von den Sessions konzipiert war; und 1992 gab es schon „The Art of Herbie Nichols“, eine CD mit 14 der veröffentlichten 22 Takes von den drei LPs.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #168: Wadada & Friends - Neuheiten 2025 (Teil 2) - 9.12., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba