Antwort auf: Gil Evans

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friedrich

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Gil Evans – Gil Evans & Ten (1957)

Gil Evans Debütalbum unter eigenem Namen. Davor war er schon viel als Arrangeur für andere tätig gewesen, mal mehr, mal weniger prominent. Das meiste davon kenne ich nicht, nur Birth Of The Cool, Helen Merrill’s Album Dream Of You (1956), auf dem Evans’ eigene Handschrift aber nur teilweise zu erkennen ist. Natürlich das (genau genommen) zweite Album mit Miles Davis, Miles Ahead. Da steht Gil Evans aber überall im Dienste von Solisten oder einer Sängerin und das Arrangement dient mehr oder minder dazu, diese gut in Szene zu setzen. Eine supporting cast, wichtig und unverzichtbar, aber nicht im Zentrum stehend. Das ändert sich grundsätzlich bei Gil Evans & Ten, wo der Klang des Orchesters die Hauptrolle spielt und die Solisten als Garnierung, als Glanzpunkte oben drauf gesetzt werden.

Mal genau hingehört: Das Album beginnt getragen – und das ist wichtig! Ein paar Tupfer auf dem Klavier, dahinter das vielstimmige Orchester. Transparent geschichtete Klänge, eigenartige Klangfarben und Harmonien. Evans setzt u.a. Bass-Posaune, Waldhorn und Fagott ein. Die verschiedenen Schichten verschieben sich gegeneinander, schwellen an und ab oder setzten auch mal ganz aus. Diese Musik atmet, manchmal nur mit einem Hauch, manchmal hält sie sogar die Luft an. Das erzeugt eine subtile Spannung, nicht nur zwischen den Klangschichten, sondern auch im zeitlichen Ablauf. Dann hebt sich daraus Steve Lacy auf dem Sopransaxophon heraus. Der Bass setzt eine paar Akzente. Schlagzeug hört man nur ganz entfernt im Hintergrund. Ach ja, die Komposition ist Remember von Irving Berlin. Ich glaube nicht, das ich das in irgendeiner anderen Interpretation kenne. Überhaupt: Evans nimmt hier mit einer Ausnahme nur Standards als Grundlage, aber nur Stücke, die – zumindest mir – nicht geläufig sind. Etwas kurios ist sogar ein Stück der Blues-Legende Ledbetter alias Leadbelly.

Im Grunde ist damit schon beschrieben, was Gil Evans Stilmittel auf diesem Album sind. Am deutlichsten kommt das bei den langsamen Stücken heraus. Da geht es viel um subtilen Klang und große Spannungsbögen, weniger um prägnante Themen oder Swing. Knackige Bläsersätze finden sich in den schnelleren Stücken. Auch schön, aber das ist nicht das, was Gil Evans zuvorderst ausmacht.

Ich unterstelle mal, das Evans stark von europäischer Klassik beeinflusst ist. Nein, natürlich weiß ich das sogar, denn das hat er immer wieder mal betont, vor allem von französischen und spanischen Impressionisten, von denen ich aber keine Ahnung habe. Das ist Orchestermusik, Solisten unterstützen das Orchester, nicht umgekehrt und setzen in diesem Klanggewebe Akzente. Herausragend in diesem Sinne Steve Lacy (Sopransax) und Jimmy Cleveland (Posaune), in ihrer Art fast gegensätzlich: Hier der hohe, manchmal spitze und bewegliche Klang des Sopran, dort der tiefere, weiche und gemächlichere Klang der Posaune. Spielt es eine Rolle, dass das nicht die „Königsinstrumente“ Tenorsax und Trompete sind? Ich glaube schon!

Ich kam auf Gil Evans & Ten zurück, weil das großartige Stück Nobody’s Heart davon auf der großen Prestige-Box enthalten ist, zu der ich hier was erzählt habe und weil ein späteres Album von Gil Evans bei den RS-Top 100 Jazzalben Thema war. Gil Evans & Ten steht vielleicht etwas im Schatten von Evans späteren Alben und den Alben mit Miles. Eigentlich schade, finde ich!

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)