Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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A LOVE SUPREME
coltrane, tyner, garrison, jones, thiele, van gelder (9.12.1964)

das mit der reduktion und eleganz des modalen jazz hat nicht lange angehalten. schon kurz nach den sessions wurden „so what“ und „all blues“ in miles-davis-konzerten beinahe doppelt so schnell gespielt. coltrane raste in GIANT STEPS durch komplizierte akkorde, verirrte sich kurz ins harmolodische system von ornette coleman und geriet danach auf frenetische, nicht mehr enden wollende exkursionen durch ambivalente skalen, verordnete sich ein nachjustieren mit standards, ellington und der begleitung eines sängers, faltete den inneren und äußeren aufruhr schließlich im klassizismus von CRESCENT zusammen, mietete mit alice ein haus auf long island, gründete eine neue familie, und besann sich auf 1957, das jahr, in dem er clean wurde und dadurch mutmaßlich noch ein paar jahre aufschub bekam vor dem immer noch zu frühen tod zehn jahre später. er schrieb ein dankesgebet an gott. über drei sich steigernde variationen des darin eingeschriebenen motivs vertonte er es in einem letzten satz wort für wort. er raubte sich zeit.

ich kann A LOVE SUPREME noch immer nicht als esoterisches programm hören. ich lese die liner notes, den gebetstext, die anekdote vom herabsteigenden propheten. aber ich höre was anderes. ich muss mir ja nicht den gleichen reim auf die musik machen wie ihr erfinder, leidenschaftliches hören geht ja bestenfalls über das nachempfinden der intentionen hinaus. für mich ist das keine kirchenmusik. sie ist im arbeitszimmer geschrieben worden und in einem tonstudio aufgenommen. sie ist auch nicht nur ausdruck einer individuellen sinnsuche, hier spielen ja noch drei andere leute mit, auf welchen eigenen suchbewegungen auch immer. anerkennung, lösung, überzeugung, höchste form der liebe: das ist das programm. seine musikalische umsetzung ein rausch zum in-die-tasche-stecken. ich freue mich, dass john coltrane sein leben (neu) geordnet hat, aber was hat das mit den turbulenzen zu tun, die hier auf engstem raum losbrechen? die pointe ist wohl, dass sie nie wieder so stark werden konnten, auf dass sie nicht wieder einholbar waren. der exzess wird zugelassen, weil er gebannt werden, eine form finden kann.

turbulenzen. die einzelnen motive wildern durch die skalen, akkorde kämen gar nicht mehr hinterher. der groove macht immer sechs angebote auf einmal. das klavier scheint zu folgen, aber auch führen, es öffnet immer nochmehr räume und kann nicht mehr abschließen, wo ist denn die „resolution“, wenn jede sicherheit zwei sekunden später wieder infrage gestellt wird? in tyners erstem solo reihen sich die akkorde so aneinander, dass man panik bekommt. wo führt das hin, wo hört das auf? selbst der bass verlässt die gesetzte bahn, treibt seinen linien rauf und runter, parallel zum saxofon, das eh nicht mehr einzuholen ist. der rausch stellt sich ein, weil das ewig so weitergehen könnte, egal in welchem tempo (das ja immer schneller wird), die skala bleibt, aber es wird von allen seiten an ihr gerüttelt. das ist also die innere musik, die endlich laut werden darf, nachdem auf long island die beschauliche ruhe eingetreten ist? es liegt eine sucht darin, cleanness hin oder her, nach einer neuen perspektive, nach einer weiteren variation, nach immer noch mehr fragen, auf die es keine antworten gibt. A LOVE SUPREME kommt abgeklärt daher, aber das ist ein exzessives album. so spielen keine vier menschen miteinander, die mit etwas friedlich abgeschlossen haben. und obwohl ich diesen 32 minuten jeden moment glaube, mich nicht in die irre geführt fühle, das gefühl von tiefer ernsthaftigkeit vermittlet bekomme, genau das erhalte, was ich brauche, lassen sie mich nie in frieden, nie in ruhe, gerate ich immer weder verlässlich ins schwitzen.

darauf läuft das also hinaus: jazzgeschichte, bestenliste, ranking und countdown. A LOVE SUPREME ist der grund, warum ich jazz höre. ob gott den dank angenommen hat? coltrane ging danach in sein rauschhaftestes jahr, 1965. nichts darin wird zur ruhe kommen. es ging alles immer weiter.

nur dieser thread ist jetzt zuende. danke fürs mitlesen, ertragen, nicht-korrigieren und für die eigenen bewegungen in dieser musik, die beigesteuert wurden.

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