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KIND OF BLUE
davis, coltrane, adderley, evans, chambers, cobb, macero, plaut (2.3. & 22.4.1959)
hätte ich im musikunterricht besser aufgepasst, wüsst ich jetzt hieb- und stichfest, was modaler jazz ist. aber eigentlich ist das für mich immer noch eine zaubersprache, mit beschwörungsformeln, die z.b. „dorisch“, „phrygisch“, „lydisch“ oder „aeolisch“ heißen, vielleicht auf 7 mittelalterliche kirchentonarten zurückgehen, vielleicht aber auch auf musikpraxen außerhalb der christlichen anrufung, da wird man ja auch schon von blut und weihrauch berauscht und benebelt, vielleicht wurde das dann doch schnöderweise von george russell erfunden, aber es haben ja schon 50.000 menschen über dieses album hier nachgedacht und man findet die anfänge immer noch irgendwann früher, da ist man irgendwann wieder in westafrika oder südostasien oder bei meister eckhart, wogegen ich ja ketzerisch behaupte, dass blossom dearie im keller von gil evans ein paar klavierakkorde ausprobiert hat, die über den umweg von leonard bernstein bei bill evans gelandet sind und für die miles davis am ende den credit ergaunert hat, um sich sehr lange darauf auszuruhen (bis ihm carter und hancock und williams wieder beine gemacht haben). namen sind am ende auch bloß zauberformeln, die am ende im rolling stone forum mit 1 bis 5 sterne bewertet werden, was manche dann objektiv finden, andere eine weitere spielart von mystik.
was ich verstehe: nicht jeder ton benötigt einen neuen akkord, dazwischen die akrobatik der virtuosen, um eine menschlich adäquate aussage anhand eines musikinstruments zu treffen – sondern: ein akkord kann im raum hängen, schattierungen bekommen, die sich nur als andere akkorde anfühlen, aber eigentlich nie seine präsenz verlieren, während man irgendwo in ihn hineinspringen kann, freie bewegungen um ihn herum, aus ihm heraus, durch ihn hindurch veranstalten, ohne dass er oder die durch ihn gesetzt stimmung verschwindet. und miles davis macht einen termin im studio, falsch: in einer kirche, falsch: in einem studio, für eine gruppe von musikern, die keine working band mehr sind – viele von ihnen schon auf dem absprung in etwas neues, auf eigenen forschungsreisen, die mit dem songbook des trompeters wohlwollend in berührung sind, aber eigentlich schon ein eigenes aufgeschlagen haben. eine egozentrisches projekt: alles abgreifen, alles für die eigene star-maschine einbinden, der sparsame schöne, traurige ton braucht ein neues setting, das ihm passt, alles soll ihm zuarbeiten, aber die auswahl ist originell genug, und alle machen kurz mit: midtempo, eleganz, modaler jazz, bernstein-dearie-evans-akkorde, reduziertes bass/schlagzeug-amalgam, kirchenraum. gil evans arrangiert ein intro zum erfolg: bass und klavier wie tastorgane, fühler gehen mal hierhin, mal dorthin, dann übernimmt die basslinie, ein besen streicht über das becken, bläser riffen halblaut, schließlich öffnen drei maestro-trompeten-töne den raum und ein schlagzeug-stick fällt aufs ridebecken und in der kirche geht das licht aus. für jedes stück ein paar anläufe, um die stimmung zu setzen, dann ein erster ganzer take und das war’s. der dorische modus macht ein ambivalentes angebot, und miles davis hat drei co-solisten engagiert, die jeweils drei verschiedene zugänge (zu seinem vierten) finden, um in halbdistanz zu den vorgaben „ich“ zu sagen: seelenvoll-insistierend (adderley), überfliegend-zwischenräumig (coltrane), versponnnen gegenrhythmisch (evans), komplementär zur melancholisch-blasierten trompete, die „so what“ sagt.
„kind of“. nennt es doch, wie ihr wollt. freddie freeloader mixt den drink dazu. bei „blue in green“ war kurz der modernismus-maler bei columbia inspiriert, aber am ende musste er seine entwürfe doch zurückziehen, miles davis wählte ein porträtfoto von miles davis aus. die klassische eleganz wurde für den jazz erfunden, live haben danach ein paar knackige bands den hintergrund dazu gebaut, oder es tupften große orchester phrygische ambivalenzen für den majestätischen trademark-trompeten-ton. die zuarbeiter von KIND OF BLUE machten in der zwischenzeit riesenschritte. das auseinanderfallen ist beim epilog von davis und coltrane 1960 in paris gut dokumentiert. stagnation in eleganz, schwitzende hypnose. aber es gehört zu den vielen genialen initiativen von miles davis, im märz und april menschen, material und mikrofone in einem einzigen kind-of-moment zu bündeln, um unsterblich zu werden.
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