Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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5

OUT TO LUNCH
dolphy, hubbard, hutcherson, davis, williams, lion, van gelder (25.2.1964)

das ist mal ein excellenzcluster, den dolphy hier für sein einziges blue-note-album zusammengestellt hat. die jazzhistorische bedeutung von OUT TO LUNCH ist sonnenklar, so viele gelegenheiten hatte der multiinstrumentalist in den knapp 7 jahren, in denen seine soli und kompositionen dokumentiert wurden und schnappatmung auslösten, ja nicht, um vorzustellen, woran er so arbeitet. hier ist man jetzt mitten drin in diesem speziellen blue-note-avantgardismus mitte der 1960er, in denen musiker sich nochmal einen neuen reim auf ihre instrumente und deren rolle machten – und in denen unter klangtechnisch edelsten bedingungen ausgelotet wurde, welche strukturen, regeln und formen man eigentlich noch absprechen muss, wenn man auch aus dem stegreif sinnvolle dinge äußern kann. ein schönes balancieren also zwischen um-die-ecke-gedachter ordnung und dem loslassen als teil davon. tony williams dekontruiert swing, bobby hutcherson spielt weniger melodien als schlageffekte und schwebende akkorde, richard davis verlässt den frequenzboden, und dolphy, der ohnehin bisher kaum langweilige, unoriginelle soli gespielt hat, baut kompositionsgerüste aus ungerade takten, isolierten heads und features für seine drei hauptinstrumente. der plan ging auf, das album sticht selbst im blue-note-katalog heraus, in dem gefühlt solche alben damals im wochenryhthmus ergänzt wurden (andrew hills POINT OF DEPARTURE, mit dolphy, hutcherson, davis und williams, wurde einen monat später aufgenommen).

ich habe nie ein geheimnis daraus gemacht, dass ich OUT TO LUNCH nicht mag. leider scheint sich daran auch nichts zu ändern. natürlich mag ich ganz viel daran, aber ich hatte immer das gefühl: genau das, was dolphy und seine jungs hier unbedingt erreichen wollten, ist das, was mich am wenigsten interessiert. interessant bei den ganzen 9/4- und 5/4-kompositionen hier ist natürlich ein vergleich zu TIME OUT – dort ging es brubeck um einen nachvollzug alltäglicher spielpraxis, die die im westen normativ gesetzten metren erweitern könnten; hier, bei dolphy, geht es um post-bop, um das aufgaben von normen, auf die man gleichwohl bezogen bleibt. nichts soll hier nach alltäglicher spielpraxis klingen. kein paul desmond, der hier flüssig über zerklüftetem gelände segelt, sondern: alle bauen im kollektiv an weiteren klüften. tatsächlich nerven mich die themen hier noch mehr als das, was die musiker daraus machen – speziell die klüfte von hutcherson und williams sind wunderschön! ich mag die überdrehte einfachheit der headstrukturen nicht, die ohnehin schnell aufgegeben werden. was mich – und das mag genauso subjektiv sein – fundamental stört, sind die beiträge von richard davis, die ich konzeptionell nicht begreife (laut dolphy soll er nicht bass, sondern rhythmus spielen, obwohl im ensemble schon zwei perkussivspieler sind), die durch ihre absage an die tiefen frequenzen den sound des album unausgewogen hell machen, die ich vor allem aber nicht souverän gespielt finde. immer zu weit vor dem beat, darin oft nicht präzise, aber sehr dominant. wie sich der bass hier ins geschehen fügt, ist wahrscheinlich eine spontane entwicklung an diesem februartag gewesen, ich mag davis sonst durchaus, z.b. vier wochen später auf den aufnahmen zu POINT OF DEPARTURE.

kein beinbruch. viel sympathie natürlich für risikobereitschaft und den drang zur innovation. geht für mich hier halt nicht auf. vielleicht zu viel ego, zu viel auf einmal, vielleicht schon die vorahnung, dass das hier die eine, einzige chance sein wird, so etwas aufzunehmen. mir ist dolphy lieber, wenn er tradierte strukturen unter spannung setzt. vielleicht ist es das: mir fehlt die spannung. und so scheitere ich kurz vor schluss an dieser selbstgestellten aufgabe, die berühmtesten jazzalben aller zeiten nachvollziehen zu können. soweit oben dürfte es doch eigentlich kein diskussionspotenzial mehr geben. aber seid gnädig, jeder darf aussetzer haben.

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