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Lucerne Festival 2025 (5/5)
KKL, Luzern, Luzerner Saal – 06.09.2025 – Lucerne Festival Academy 5
Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)
Vimbayi Kaziboni Dirigent (Ustwolskaja, Czernowin)
Claire Chase Kontrabassflöte (Czernowin)
Stefan Jovanovic Sprecher (Ustwolskaja)
Agathe Le Gac, Andrei Samarin, Rebecca Toal Trompeten (Gubaidulina)
Einführung im Konzert: Chaya Czernowin im Gespräch mit Mark Sattler (in Englisch)
SOFIA GUBAIDULINA (1931–2025): Trio für drei Trompeten
GALINA USTWOLSKAJA (1919–2006): Sinfonie Nr. 2 Wahre, ewige Seligkeit!
CHAYA CZERNOWIN (*1957): The Divine Thawing of the Core für Flöte und Orchester (Schweizer Erstaufführung)
Gestern der letzte Besuch in Konzert: Matinée um 11 und Nachmittagskonzert um 16 Uhr, noch zweimal im Rahmen der Academy, der Boulez- und Stroppa-Schienen. Dass dieser dieses Jahr als Composer in Residence beim Festival agierte, habe ich glaub ich noch gar nicht erwähnt? Dieses Erste Konzert ohne Pause dauerte nicht wie prognostiziert ca. 75 Minuten sondern etwa 1:40 Stunden – und es gehört zu meinen Festival-Höhepunkten. Kaziboni und Chase hatte ich schon Anfang des Jahres in Winterthur gemeinsam erlebt (siehe oben), mehr als auf sie freute ich mich aber auf das Programm, in dem u.a. wieder Chaya Czernowin dabei war, die ich 2024 gleich zweimal erlebte (sie war in Winterthur wie auch in Paris anwesend, als Stücke von ihr aufgeführt wurden).
Los ging es mit einem kurzen Trompetentrio von Sofia Gubaidulina, einem Stück von 1976 in drei Teilen, das schnelle Wechsel zwischen den Instrumenten, choralartige Passagen, durchaus jazzige Klänge, aber auch eine Art „Persiflage auf die traditionelle festliche Fanfarenmusik“ (Martin Demmler im Programmheft) bietet. Danach erklang die zweite Symphonie von Galina Ustwolskaja, ein kompromissloses, etwa 20minütiges Stück für ein eigenwillig besetztes Orchester (Bass- und Tenortrommel, Klavier, Tuba, Posaune sowie je sechs Flöte, Oboen und Trompeten) und eine (Sing- und Sprech-)Stimme 1979 komponiert wurde. Reiner Klang, wuchtig, fast trotzig, fast stur ist das, mit eng geführten Clustern und einem Klavier, das mit brutalen Clustern dreinfährt – oft mit Fäusten gespielt, dazwischen auch auf den Saiten oder mit einem Hammer auf dem Metallrahmen traktiert. Das ist essentielle, oft fast schon gewalttätige Musik – die am Ende im Nichts verklingt. Musik des Trotzdems, eine Entgegenhaltung. Die Solostimme ruft dabei flehend immw wieder und immer fragmentierter ein paar Zeilen von Hermann von Reichenau (aka Hermann der Lahme): „O! Herr! Wahre und selige Ewigkeit! Ewige und selige Wahrheit! Wahre, ewige Seligkeit! O! Herr!“ – Unglaublich eindringlich, unglaublich eindrücklich!
Danach ein kurzes Gespräch mit Czernowin, deren Stück am 1. August in Darmstadt uraufgeführt und seither noch einmal in New York gespielt wurde, bevor es jetzt auch in Luzern zu erleben war. Und „erleben“ ist dafür das richtige Wort, „erfahren“ vielleicht ein noch besseres. Czernowin schreibt quasi Ustwolskaja weiter, verwendet fast dieselbe Besetzung: nur ein Schlagzeuger (der viel mehr spielt als nur die Basstrommel, diese aber auch prominent einsetzt), zusätzlich drei Celli (die oft schaben und kratzen, dass ich auch mal an Lachenmann denken musste), und statt der Stimme eine Kontrabassflöte. Das Stück ist auch ein Konzert für Kontrabassflöte und Ensemble, es ist zugleich ein Zeitkommentar (der ironisch gemeinte Titel bezieht sich auf die Aushöhlung der einstigen Ideale Israels durch die ultrareligiösen Kräfte im aktuellen Netanjahu-Regime) – es ist aber auch absolute Musik, die keine Worte und Erklärungen und erst recht keinen Überbau benötigt. 53 Minuten dauert das Stück – und wie Ustwolskaja im Nichts verschwindet, entsteht Czernowins Stück aus diesem, und es hält der Wucht eine zarte Fragilität entgegen, wird in der Hinsicht zum Gegenpol. Ganz langsam dreht sich ihr Stück durch rätselhafte Räume, durch unerforschte Gänge, um plötzlich auf Klarheit zu treffen, auf Dinge, musikalische Figuren und Gesten, an denen das Ohr sich kurz festhalten kann, bevor alles wieder entschwindet. Vielleicht passt die „Spirale“ von Marco Stroppa (der auch im Publikum sass) als Form des Gedankens auch zu diesem tollen Werk? Es anzuhören bedeutet auch, es auszuhalten – und sich selbst dabei. Das sich Aussetzen ist auch ein Aussitzen, das Kreisen der Musik wird zu einer Erfahrung, wie sie nur live, im Raum mit den Musiker*innen, erlebbar werden kann. Chase hatte ein Mirkrophon angeklebt, denn auch Geräusche, der Atem, die Stimme kommen zum Einsatz zur oft mehrtönigen, überblasenen Flöte, die zwischen Bass- und hohen Obertönen changiert.
Wenn ich den Zeitgeist schon ein wenig aus der Mottenkiste hervorgeholt habe (gilt nicht nur fürs Konzert mit Palomar Raab sondern auch fürs das Academy Konzert 2), drängte sich hier auch eine Frage auf: Ist es auch eine Art Zeitphänomen, dass Czernowin mit einer Verletzlichkeit und Fragilität umgeht, die der brutalen Unbedingtheit von Ustwolskaja diametral entgegengesetzt wirkt – obwohl die Stücke so vieles zu verbinden scheint? Jedenfalls eine enorm faszinierende Angelegenheit, dieses Konzert!
KKL, Luzern, Luzerner Saal – 06.09.2025 – Portrait Boulez & Stroppa 2
Ensemble Helix/Studio für zeitgenössische Musik der Hochschule Luzern – Musik
Elide Sulsenti, Cello; Leonard Wacker, Dirigent / Ksenija Franeta, Flöte / Irane Ballesteros, Violine; Gleb Sidaruk, Violoncello; Mónica López Candela, Klavier
Einstudierung: Erik Borgir (Boulez, Stroppa), Marco Stroppa (Stroppa), Francesca Verunelli (Verunelli)
PIERRE BOULEZ (1925–2016): Messagesquisse für Violoncello solo und sechs Violoncelli
FRANCESCA VERUNNELLI (*1979): wo.man sitting at the piano I für Flöte und Player Piano
MARCO STROPPA (*1959): Osja. Seven Strophes for a Literary Drone für Violine, Violoncello und Klavier
Die Pause war dann Ende gar nicht so lang, bevor es zum zweiten (von zwei) Boulez & Stroppa-Konzert ging. Los ging es mit Messagesquisse für Solo-Cello und sechs Celli, souverän gespielt von Elide Sulsenti und einem Cello-Ensemble der Hochschule bzw. des Ensemble Helix, geleitet von einem Teilnehmer des diesjährigen Contemporary Conducting Program der Academy. Ein stimmiger Auftakt und wohl auch das überzeugendste Stück des Konzertes. Danach gab es ein Stück für Flöte und Player Piano – wobei da ein normaler Bösendorfer stand, der mit Midi-Technologie zum Spielen gebracht wurde – und dass die Flötistin, die auf dem Klavierschemel sass einen Klick-Track im Ohr trug, gehörte hier dazu: wie bei frühen elektronischen Stücken ist er auch in dieser Komposition der in Luzern unterrichtenden italienischen Komponistin Francesca Verunelli so, dass einmal gestartet das Klavier seinen Part gnadenlos durchzieht, ohne Möglichkeit der Reaktion oder Interaktion. Die Rollen sind gewissermassen vertauscht, denn, klar: ein Player Piano ist nur dann sinnvoll, wenn Menschenunmögliches verlangt wird. Die Flöte – auch hier mit Einsatz von Multiphonics – wird quasi zur Begleitung, die Rollen sind vertauscht. Ich fand das durchaus beeindruckend, aber auch etwas atemlos, erschlagend am Ende, vielleicht auch etwas lang? Aber gut, die Aufführung war tadellos und eben: beeindruckend.
Davor hatte Verunelli mit Mark Sattler über ihr Stück gesprochen, und während ein anderer (nicht verkabelter) Flügel in die Mitte gerollt und auf der ganzen Bühne verteilt Notenpulte und Stühle aufgestellt wurden, erläuterte Stroppa sein abschliessendes Stück, das für einmal ganz ohne Elektronik auskommt – aber dennoch, wie bei ihm üblich, den Raum einbezieht und bespielt. Hinter dem aufgeklappten Flügel verstecken sich zunächst Geige und Cello und nehmen dann zwei oder drei weitere Positionen vor dem Flügel und am Ende in entgegengesetzter Richtung recht weit von diesem entfernt ein. Sieben Sätze mit zwei Unterbrüchen – und Bewegung auch am Übergang von Sätzen, bei denen das Klavier ohne eigentlichen Unterbruch weiterspielt. Gedichte von Joseph Brodsky bilden hier die Vorlage, Stroppa hat einmal mehr ein wenig erzählt, wie er konkrete Inhalte in Musik übertragen hat doch auch hier: das ist für das Hörverständnis gar nicht zu wissen nötig. Nach dem wilden Ritt war das wieder phasenweise sehr stille Musik – die sich im Raum erst allmählich zu entfalten begann, mir aber gegen Ende immer besser gefiel.
Was ich zu Stroppa – bei den beiden Totem-Stücken, besonders bei „Come Play with Me“ (Teil 4/5 direkt darüber) noch nicht deutlich genug erwähnt habe: ihn interessiert tatsächlich die physikalische Reaktion der Töne im Raum – wie die Klänge von Instrumenten (und von seinem Totem) in den Raum projiziert werden können, was dabei passiert, wenn die Klangsäulen oder Klangflächen des Orchesters und der Elektronik aufeinanderprallen – so etwas berücksichtigt er beim Komponieren … und klar, ich hätte da gerne ein weiteres Werkstattkonzert erlebt, in dem er vielleicht mit unterschiedlichem Einsatz seines Totems gleiche Passagen unterschiedlich hätte im Raum erklingen lassen … denn mir das konkret wirklich vorzustellen vermag ich nicht.
Versuch einer Bilanz: Lucerne Festival 2025
Grosse Entdeckungen und Highlights: das Festivalorchester (besonders mit Orozco-Estrada aber auch mit Rattle bei Mahler); Dieter Ammanns Violakonzert „No templates“; „Répons“ und das „Livre pour quatuor“ von Pierre Boulez; Ustwolskaja und Czernowin.
Unbedingt erwähnenswert: Dai Fujikuraws Boulez-Hommage „Ritual“, Jonathan Notts Auftritt mit „Répons“, Rattles Mahler-Orchester-Glanz im „Lied von der Erde“; Karina Canellakis‘ souveräner Auftritt mit Bertrand (ich hab die Noten vergessen) Chamayou und Robin de Raaffs Orchesterkantate mit dem hervorragenden Chor des niederländischen Rundfunks.
Endlich live gehört: Tabea Zimmermann
Favorit*innen, auch heuer wieder: das Arditti Quartet, Janine Jansen.
Ausgrabung des Jahres: „Poésie pour pouvoir“ von Boulez
Hier muss ich weiterhören: das ganze „Pli selon pli“ von Boulez, Berios Schubert-Bearbeitung „Rendering“ endlich einmal zuhause anhören, und überhaupt mehr von Chaya Czernowin – und vorbereitend auf 2026 von Liza Lim – anhören.
Wenn hier Marco Stroppa fehlt, so liegt das an einer gewissen Ratlosigkeit, mit der mich seine Musik zurücklässt. Um mir da ein besseres Bild zu verschaffen, hätte ich noch mehr hören können müssen, glaube ich. Ansprechend fand ist alles auf gewisse Weise, die Stücke für Streichquartett – vielleicht auch dank dem Arditti Quartet – am meisten, aber umwerfend halt irgendwie nichts.
Was ich u.a. – neben den schon erwähnten zwei weiteren Konzerten von Tabea Zimmermann – alles verpasst habe: Cecilia Bartoli und ihre Monaco-Monarchisten mit Rossinis „Barbiere“, Nézet-Séguin mit dem Festivalorchester und Bruckner 4, Augustin Hadelich mit Brahms und dem Orchestre de Paris (das erste der beiden Konzerte, auch mit Salonen), das letzte Academy-onzert mit dem LFCO (nochmal im grossen Saal) mit Aimard und Musik von Neuwirth, Ravel und Boulez, William Christie und seine Arts florissants mit Charpentiers „Les Arts florissants“ und „La Descente d’Orphée aus Enfers“, Igor Levitt, Wayne Marshall mit Poulencs Orgelkonzert, Lisa Batiashvili mit den Münchner Philharmoniker und Lahav Shani mit dem Beethoven-Konzert, Kent Naganos Ring-Zyklus mit Concerto Köln auf alten Instrumenten (der kommt Freitag „Siegfried“ an) …
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Und noch ein Nachgedanke zum Zeitgeist: wenn ich mir die beiden composers in residence vom letzten Jahr vor Augen halte, trifft das zu Czernowin Geschriebene zum Teil wohl auch auf die Musik von Lisa Streich zu. Und auch auf die Musik Anna Thorvaldsdottir, die 2024/25 als Creative Chair beim Tonhalle-Orchester waltete. Von beiden kenne ich aber auch zu wenig – und würde sehr gerne mehr hören, befürchte aber irgendwie, dass das auf Konserve nicht so gut passt für mich (ich hab’s noch nicht ausprobiert … aber von beiden haben sich einzelne live erlebte Stücke eingebrannt – von Beat Furrer, dem anderen letztjährigen Luzerner composer in residence, brauche ich da nicht zu reden, der hat seine Handschrift und stammt – wie Ammann, und natürlich auch wie Stroppa – aus einer anderen Generation).
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #165: Johnny Dyani (1945–1986) - 9.9., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba